Die folgende Geschichte stammt von Marion Hübinger. Sie spielt zeitlich nach dem Roman „Nachtfunke“ ohne diesen zu spoilern. Fino ist auf der Suche nach einer neuen Heimat für sich und sein Volk. Da habe ich ihm vorgeschlagen sich einmal das Siebengebirge anzusehen. Allerdings schicken wir ihn nicht in das moderne Siebengebirge am Rhein, sondern in das mystische aus der Legende. Die Fotos im Beitrag stammen alle von der Kathrin Rosi Würtz. Sie liebt das Siebengebirge und macht unheimlich schöne Fotos. Schaut auf Instagram unbedingt mal bei ExpeditionSiebengebirge vorbei.
Wir haben uns auf den Weg gemacht, um nach anderen Stämmen zu suchen. Neue Stämme, mit denen wir Handel treiben können und die in Frieden miteinander leben. Ein langer und kräftezehrender Marsch liegt hinter dem Stamm der Fens und den letzten Überlebenden meines eigenen Stammes, den Laxis.
Während mein Blick auf dem ruhig dahin strömenden Wasser ruht, das auf einen breiten Gebirgszug zufließt, denke ich an den Großen Fluss, an dem ich einst gelebt und jeden Fels, jede Strömung gekannt habe.
»Könnt ihr es sehen?« Die brüchige Stimme der alten Seherin holt mich aus meinen fernen Erinnerungen zurück. Ich wende den Kopf zu ihr.
»Was meint ihr?«
»Dieses Land, es ist ein mystisches Land. «
»Wie kommt ihr darauf?«
»Ich sehe sieben Berge, und wir Fens verehren diese Zahl.«
»Asya«, ich lege der alten Frau die Hand auf den Arm. »Wir haben ganze Bergketten überwunden. Ich kann die Berggipfel an einer Hand zählen. Warum soll unsere Reise ausgerechnet hier enden? Ich kann beim besten Willen keine sieben Berge vor uns erkennen.«
»Aber ich, schließlich bin ich die Seherin.«Die Finger der Alten zeigen nach vorn. »Die Berge werden sanft geschwungen wie die Rundungen eines Kinderhinterns sein und der Fluss wie ein Baby an ihrem flachen Verlauf gebettet. Du musst es dir nur vorstellen, Fino. Hier werden wir Handel treiben, manche von uns werden für immer hier bleiben.«
Ich seufze leise. Die Vorstellung, irgendwo neu anzufangen, hat einen gewissen Reiz. Wenn man alles verloren hat, was einem wichtig ist, umso mehr. Mein Blick ruht für einen Moment auf Asya und Elin, ihrer Enkeltochter, an deren Arm sich die alte Frau stützt. Hat mir Elin nicht anvertraut, dass sie schon meine Wahl zum Kriegeranführer hinter den Schleiern des Halblichts sehen konnte? Und mein Nahen mit bebendem Bran verfolgt hat? Wie mächtig die Gabe der Seherinnen doch ist. Zwar ist es ihnen nicht möglich, in das Geschehen einzugreifen, doch der Stamm der Fens baut auf genau solche Visionen. Kann also wirklich sein, dass unsere Reise hier endet?
»Was siehst du noch?«, will ich von Asya wissen, so als bräuchte ich mehr als nur dieses eine Bild. »Kannst du auch sagen, was uns noch in deinem magischen Land erwarten wird?«
Die leichte Falte auf ihrer Stirn entgeht mir nicht. »Ich sehe sieben Menschen, sehr große Menschen. Sie sind stark wie Bären, haben Hände, auf denen sie leicht eine ganze Hütte tragen könnten, und ihre Gesichter sind von tiefen Falten zerfurcht. Aber … «, sie hebt die Hand, um eine Erwiderung von mir zu unterbrechen, »sie leben friedlich an der Seite der Stämme diesseits und jenseits der Berge.«
»Du meinst … jenseits der Berge gibt es noch mehr Siedlungen?«
»Ja, zahlreiche Stämme haben sich in diesem Land angesiedelt. Viele verweilen in der Nähe des großen Sees, andere sind weiter über die Gebirge gezogen.«
»Das klingt gut.«
Zu meiner großen Überraschung schüttelt Asya den Kopf. »Ich bin mir nicht sicher. Das Gebirge trennt Land und Wasser.«
»Dann bleiben wir eben am See. Ich glaube, ich kann ihn in der Ferne glitzern sehen.«
»Der See ist es, der mir Sorgen macht. Das Gebirge hält das Wasser auf und lässt es immer weiter ansteigen. Ich aber habe den Fluss quer durch das weite Land fließen sehen.«
Nachdenklich reibe ich mir den Nacken. Mein Haarkamm ist erst frisch geschnitten und ich spüre einen kühlen Windhauch auf der nackten Haut. »Wir können die Seebewohner befragen, lass uns erst einmal dorthin gehen.«
»Das sollten wir«, sagt Elin. »Immerhin haben wir uns auf den Weg gemacht, um andere Stämme zu finden und nicht für immer in der Einsamkeit der Moragen zu verweilen.«
Ich suche Elins Blick. Ihr warmes Lächeln lässt mein Bran erzittern. Wie schön sie ist.
»Ihr seid sie Seherinnen, ihr werdet uns führen«, sage ich mit fester Stimme.
Elin nickt. »Und du bist ein Kriegeranführer, Fino von den Laxis. Vergiss das nie.«
Je weiter wir dem Fluss folgen, desto lehmiger wird der Boden. Das Land ist fruchtbar, stelle ich zufrieden fest. Schon stoßen wir auf erste Siedlungen. Die Bewohner bauen Getreide an, Furchen deuten auf Felder, die bestellt werden. Ich sehe ihre Hütten, die größtenteils auf hölzernen Stelzen gebaut sind. Stufen führen ins Innere. Zu gern würde ich wissen, wie sie darin leben. Doch ich zügle meine Neugierde.
»Wo sind die Riesen, von denen du uns erzählt hast, Elin?« Ein kräftig gebauter Mann der Fens spricht aus, was ich mich selbst insgeheim frage. Die Hütten sind zu klein für derartige Menschen.
»Sie leben in riesigen Höhlen in den Bergen.«
»Werden sie uns nichts tun?«, will eine der alten Frauen wissen, die es an Zähigkeit gewiss mit einem Riesen aufnehmen kann. Immerhin hat sie es bis hierher geschafft.
Aso, Elins Bruder, lacht sein helles Lachen. »Sie werden uns mit ihren großen Händen packen und gegen die Felsen schleudern.«
Seine Worte lösen einen Schauder aus. Die Kinder wimmern leise.
Ich werfe Aso einen finsteren Blick zu. »Erzähl nicht solche Geschichten. Du machst den Kindern Angst.«
»Das werden wir gleich erfahren«, sagt Elin leise und deutet mit dem Kopf vor uns.
Im selben Moment nehme ich ein lautes Stampfen wahr. Nicht das Hufgetrappel von Pferden, sondern ein entschiedenes Vorwärtskommen.
»Die … die sind ziemlich groß«, stöhnt Aso auf und rückt ein Stück näher zu mir.
»Irsa, steh uns bei«, höre ich das Gemurmel unserer Leute.
Schnell drehe ich mich zu ihnen um. Fens und Laxis, vertraute Gesichter, krumme Rücken, verängstigte Mienen, Mütter, die ihre Kinder hinter sich schieben, das alles nehme ich wahr und denke gleichzeitig an Asyas Vision.
»Sie werden uns nichts tun. Vertraut eurer Seherin, denn das Halblicht irrt nicht.«
»Das sagt sich leichter, als es ist«, sagt Gundo, der junge Laxis und zugleich mein Freund. Trotzdem reiht er sich ganz selbstverständlich in die Gruppe derer ein, die unsere Reihen anführen.
Ich danke es ihm mit einem kurzen Nicken, bevor ich mich auf die herannahenden Menschen konzentriere. Die alte Seherin hat von großen Menschen gesprochen, aber ich habe mir nicht ausmalen können, dass sie uns um mindestens eine ganze Körperlänge überragen. Ein seltsames Brummen begleitet ihre kraftvollen Schritte. Wir weichen nicht zurück. Wir sind so weit gekommen, niemand kann uns nehmen, was wir an Kämpfergeist in uns haben.
Es sind nur drei. Die Köpfe der Riesen wackeln, als wären diese selbst ihnen zu schwer. Ihre runden hervorquellenden Augen blicken freundlich. Die Arme schlendern hin und her. Ich muss kräftig schlucken. Die Hände sehen gewaltig aus. Angespannt halte ich den Atem an. Strecke meine Schultern durch und spüre den Widder an meinem Oberarm, das Zeichen eines Kriegeranführers, pulsieren.
Laut und deutlich erhebe ich meine Stimme. »Ich bin Fino von den Laxis. Dies ist mein Volk, Fens und Laxis Seite an Seite. Wir sind auf der Suche nach einer neuen Heimat.«
Die Augen der Riesen rollen. Sie legen ihre Köpfe schief, während sie auf uns blicken.
»Ihr werdet finden, was ihr sucht«, donnert die Stimme desjenigen, dessen Bauchumfang der Gewaltigste ist. »Doch jetzt schlagt euer Lager hier auf.«
Ein Raunen geht durch unsere Leute.
»Noch heute Nacht werden wir das harte Gestein der Berge durchbrechen, damit das Wasser weiter fließen kann. So lautet der Pakt mit den Menschen. Danach seid ihr frei zu siedeln und Handel zu treiben, wo immer ihr wollt.«
Lauter Jubel folgt auf die Worte des Riesen. Kurz wende ich meinen Kopf, um zu sehen, wie sich Fens und Laxis in die Arme fallen. Ich bin mir meines eigenen klopfenden Herzens bewusst.
»Wir danken euch dafür, dass ihr uns willkommen heißt«, sage ich und lege meine rechte Faust auf die linke Brust wie es bei uns Laxis Sitte ist.
»So wird deine Prophezeiung wahr, Schwester.«
Es sind Asos Worte, die mich aufhorchen lassen. »Aber … wo sind nun die sieben Berge? Noch sehe ich einen einzigen hohen Gebirgszug vor uns.«
Asya und Elin verneigen sich vor den Riesen. »Wartet ab, bis der Tag morgen seinen Lauf nimmt. Ich bin sicher, es wird genau so sein, wie ich es verkündet habe.«
Die Nacht ist erfüllt von lautem Grollen und Rumpeln. Ich finde kaum Schlaf. Tief im Berg leben die Riesen, hat die Seherin gesagt. Was wird mit ihren Höhlen, geschehen, wenn sie den Berg durchbrechen? Werden sie sich eine neue Heimat suchen müssen?
Als mich leises Jubelgeschrei mit den ersten Sonnenstrahlen weckt, strecke ich meine steifen Glieder und stehe auf. Der Anblick, der sich mir bietet, hätte nicht ergreifender sein können. Der See ist wahrhaftig verschwunden. Stattdessen schlängelt sich der Fluss mitten durch das Gebirge, das keines mehr ist. Der Fels ist zerklüftet, einzelne Brocken verteilen sich über die Ebene, als ob sie dank der bloßen Kraft der Riesen weggesprengt worden sind.
Am Ufer des Flusses werden die sieben Riesen von unzähligen jubelnden Menschen umringt, die sich in den Armen liegen. Ich kann ihre Freude bis hierher spüren. Die Riesen schultern indes ihr Werkzeug, klopfen sich Staub und jede Menge Erdkrümel von ihren Beinen, und aller Dreck türmt sich zu sieben Erdhügeln auf. Ich kann es kaum glauben, aber ich werde wahrhaftig Zeuge davon, wie die sieben Berge entstehen. Sie reihen sich gleich den Hintern von sieben Kindern aneinander und schmiegen sich dabei an das rechte Ufer des Flusses, als wären sie schon immer dort gewesen. Und im Licht der aufgehenden Sonne verschwinden die Riesen mit schnellen Schritten. Gewiss machen sie sich auf den Weg, um neue Höhlen zu bauen. Ob sie wohl die Bergwelt der Moragen finden werden? Tränen der Freude sammeln sich in meinen Augen. Die Zeit für ein neues Abenteuer ist gekommen.
Herzlichen Dank Marion für diese wunderbare Begegnung mit unserer rheinischen Sage vom Siebengebirge.
Das Copyright für die Geschichte liegt bei Marion Hübinger und für die Bilder bei Katrin Rosi Würtz!
Lust darauf mehr von Fino zu lesen? Dann empfehle ich dir Nachtfunke. Hier geht es zur Webseite von Marion Hübinger mit weiteren Informationen zum Buch, zur Autorin und ihren weiteren Veröffentlichungen. Ihr findet Marion auch auf Instagram oder Facbook.
Haben euch die Fotos von Rosi neugierig gemacht? Sie ist unglaublich vielfältig. Schaut unbedingt mal auf ihrer Webseite vorbei oder stöbert über ihre digitale Visitenkarte auf welchen Plattformen sie zu finden ist. Mich hat sie übrigens auch schon für das Blog Expedition Siebengebirge interviewt.