Zum Beginn der Sonntagsgeschichte geht es hier.
***
„Hey, du bist heute ganz schön verträumt“, sprach Angi Josephine an. „Wollen wir das letzte Stück bis zur Ruine hoch?“
„Gern“, stimmte Josephine zu. Zwischen ihrer besten Freundin Angi und Sarah machte sie sich auf den Weg zum Gipfel des Drachenfels. Basti und Marcel folgten den Mädchen.
Josephine und Angi liebten den letzten Stück des Weges hinauf zur Ruine. Sarah ging den Weg zum ersten Mal und hatte mit ihrem unpraktischem Schuhwerk zu kämpfen. Josephine reichte ihr einen Arm, den sie dankend annimmt. „Gibt es eine Geschichte zum Drachenfels“, erkundigte sich Sarah. „Ich meine, bei dem Namen?“
„Nicht nur eine“, bestätigte Angi und Josephine begann zu erzählen:
„Kennst du die Nibelungensage?“ Sarah schüttelte den Kopf. Gehört hatte sie den Titel schon mal, aber keine Ahnung, worum es ging.
„Also, es geht um Siegfried von Xanten oder auch Siegfried den Drachentöter.
Nachdem er von zu Hause los gezogen war, ging er eine Weile bei einem Schmied in die Lehre. Ihn trieb es jedoch weiter. Er verließ die Schmiede mit einem ganz besonderen Schwert und zog weiter rheinaufwärts. Er kam in einen Ort und hörte von schaurigen Geschichten. In seinem jugendlichen Leichtsinn musste er sich natürlich selbst von den angeblichen Gefahren überzeugen. Vielleicht war es auch die Erwähnung eines Schatzes, die ihn antrieb. Jedenfalls kam er her. Wie er es schaffte den Drachen zu töten, dazu gibt es viele Varianten der Geschichte. Wahrscheinlich hatte er eine Menge Glück, vielleicht lag es auch an dem besonderen Schwert.
Jedenfalls war ein verrückter Held geboren, einer der seine Heldentat damit feierte, nackt in dem Blut des Drachen zu baden. Er soll sehr attraktiv gewesen sein, dennoch klingt die Szene für mich eher wie aus einem Horror-Film, denn einer erotischen Darstellung, wobei es ausrechnet diese Szene mehrfach in künstlerische Darstellungen geschafft hat. Die Drachentötung natürlich auch. Naja, also sein Körper war vollständig von dem magischen Drachenblut bedeckt, bis auf eine Stelle an seiner Schulter, auf die ein Blatt gefallen war. Frag mich bitte nicht, warum das Blatt beim Bad nicht abgegangen und davon geschwommen ist. Der von nun an unverwundbare Held hatte eine geheime Schwachstelle, die ihm später zum Verhängnis werden sollte.
Den Schatz des Drachen fand er ebenfalls und mit diesem im Gepäck zog er dann nach Worms, um Prinzessin Kriemhild zu umwerben. So ungefähr lautet der Anfang des berühmten Nibelungenliedes.
Ob Siegfried wirklich bei uns den Drachen besiegt hat, darüber streiten sich die Legenden, denn es gibt weitere Orte, die diesen Teil der Nibelungensage für sich beanspruchen. Von der Lage her macht es aber einfach Sinn. Wenn der junge Siegfried in Xanten aufbrach und schließlich in Worms um Kriemhilds Hand anhielt, dann kam er nun einmal hier vorbei.“
„Der Held aus Xanten“, murmelte Sarah. „So einen hatte ich bis vor kurzem auch noch.“
„Hey, was ist los?“ Angi hatte ein feines Gespür für tragische Liebesgeschichten. Sarah schüttelte den Kopf, gab dann aber doch nach und erzählte: „Wir waren gar nicht lange zusammen. Ostern war ich mit einer Freundin eine Woche auf Mallorca. Dort habe ich Kai kennen gelernt. Er war ein richtiger Sunnyboy. Wir hatten viel Spaß zusammen, genossen die Sonne, den Strand und feierten abends zusammen. Es war nichts ernstes, eigentlich nur ein Urlaubsflirt. Nachdem wir zurück in Deutschland waren, schrieb er mir, besuchte mich in Düsseldorf und irgendwie fingen wir dann doch etwas miteinander an. Allerdings wollte er nie, dass ich ihn besuchen kam. Er hatte immer einen Grund und wenn es nur war, dass er ein Gentleman sei und ich die Fahrt nicht auf mich nehmen müsse. Doch irgendwann wollte ich ihn überraschen. Ich hatte einen freien Tag und fuhr nach Xanten, seine Adresse hatte ich leicht herausgefunden. Seine Schwester führt einen ordentlichen Reiseblog, mit Impressum. Tja, die Überraschung war dann ganz meinerseits. Denn ich war nicht die einzige, die ihn besuchte …“ Sarah atmete tief durch und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.
„Im Garten habe ich ihn gefunden, eine Blondine im knappen Minirock und nur im BH saß auf seinem Schoß, während er gemütlich im Gras lag. Es war mitten in der Woche, scheinbar hatten sie beide frei. Später erfuhr ich, dass er nicht frei hatte, sondern wenige Tage zuvor seine Ausbildung geschmissen hatte. Warum das Mädel Zeit hatte, keine Ahnung, interessiert mich nicht. Das war jedenfalls das tragische Ende meiner Beziehung.“ Jetzt konnte sie die Tränen kaum noch zurück halten. Angi nahm sie tröstend in den Arm.
„Das ist noch nicht lange her oder?“, hakte Josephine besorgt nach und kramte in ihrer Tasche.
„Nein“, schniefte Sarah und nahm das angebotene Taschentuch dankbar an. „Nein, das war erst letzte Woche. Ich habe danach erst einmal Urlaub eingereicht und bin zu Carla gefahren, die jetzt auch noch krank ist.“
„Das war ein guter Plan“, stimmte Josephine zu. „In solchen Momenten braucht man einfach eine Freundin.“
„Genau“, bestätigte Angi. „Und da Carla krank ist, übernehmen wir zwei den Job jetzt.“
„Danke“, seufzte Sarah und schenkte den beiden ein zaghaftes Lächeln. Sie löste sich aus der Umarmung und trocknete die letzten Tränen.
„Und die Ruine wurde im zweiten Weltkrieg zerstört?“, versuchte Sarah das Thema wieder zu wechseln.
„Ehrlich gesagt, weiß ich das gar nicht so genau“, musste Josephine zugeben und sah fragend Angi an, die mit den Schultern zuckte. „Nein, ich glaube nicht“, erwiderte sie zögernd.
„Das war im 30-jährigen Krieg und der anschließende Verfall der Zeit“, meldete sich Marcel von hinten zu Wort. Genaueres wusste er aber auch nicht zu erzählen, was auch nicht mehr wichtig war, denn sie hatten die Ruine erreicht und genossen den wunderbaren Ausblick.
„Ich finde es immer wieder erstaunlich, mir vorzustellen, wie Menschen früher, ohne technische Mittel, solche Monumente auf Bergen errichtet haben. Wie schwierig muss ihr Leben wohl gewesen sein oder vielmehr beschwerlich für die Bediensteten, die alles Nötige auf den Berg schaffen mussten.“
Da konnte Josephine ihr nur zustimmen. Schon als kleines Kind, wenn sie stolz den Berg mit ihren Eltern erklommen hatte, hatte sie sich gefragt, wie Menschen hier oben hatten leben können, dabei immer wieder den Weg auf sich nehmen müssend. Sie wusste noch, wie sie ihren Vater ungläubig angestarrt hatte, als er ihr erklärte, dass es damals sogar noch beschwerlicher war, denn die Wege waren nicht asphaltiert, sondern bargen viele Stolperfallen. Es machte Sinn, aber es überstieg ihre kindliche Vorstellungskraft, wenn ihre kurzen Beinchen erschöpft auf den Resten der Ruine hockten.
Auf eben diesen balancierte Angi gerade herum und es passierte, was passieren musste. Sie knickte um. Angi konnte sie gerade noch auffangen, damit sie nicht stürzte, aber den Knöchel hatte es erwischt. Sie fluchte und setzte sich erst einmal mit Angis Hilfe hin. „Wie soll ich denn jetzt wieder hinunter kommen?“, jammerte sie.
„Wir müssen es nur bis zur Aussichtsplattform schaffen“, ab da können wir die Bahn nehmen“, versuchte Angi sie zu trösten.
***