Hier findet ihr das erste Kapitel der Sonntagsgeschichte.
Zum Verständnis solltet ihr mindestens das letzte Kapitel vorher gelesen haben.
Josephine trank einen Schluck Wasser aus dem Glas, das sie auf einmal in den Händen hielt. Sie saß auf dem kleinen Lesesessel mitten im Buchladen Ludwig. Eben stand sie doch noch vor dem Regal.
„Geht es dir wieder besser?“, fragte eine freundliche Stimme. Josephine wandte sich ihm zu und fragte flüsternd: „Wer bist du?“
Besorgt sah er sie an. „Ich bin es, Marcel. Was ist los? Ich dachte, dir wäre nur schwindelig geworden.“ Sie schüttelte den Kopf. Klar, das war Marcel, der Buchhändler, aber irgendwie auch nicht. Sie wusste, was sie gesehen hatte. Aber wusste er es? War er Freund oder Feind?
Sie sahen sich lange in die Augen, dann nickte Marcel. „Ich verstehe, was du meinst. Deine Kette ist dir hervor gerutscht, trage sie lieber wieder unter dem Kleid.“ Er flüsterte jetzt auch. „Pass auf, ich habe in ungefähr einer halben Stunde frei. Nimm deine Bücher und warte auf der Domtreppe auf mich. Danach lade ich dich auf ein Eis ein. Einverstanden?“
Josephine nickte und stand auf. „Geht es deinem Kreislauf wieder gut?“, fragte er in normaler Lautstärke. Josephine verstand und antwortete. „Ich glaube schon, danke für das Wasser. Ich gehe mal lieber an die frische Luft.“
Marcel begleitete sie noch nach unten zur Kasse. Unauffällig ließ Josephine den Anhänger wieder unter ihrem Kleid verschwinden. „Bis gleich“, flüsterte er ihr zu.
Josephine verließ die Buchhandlung und den Bahnhof. Draußen erwartete sie frische, aber auch sommerlich warme Luft. Sie ging auf den Dom zu und machte es sich auf halber Höhe auf der Treppe gemütlich. Wahllos griff sie eines der neuen Bücher und begann zu lesen. „Die Maske der Vergangenheit“ von Antonia C. Wesseling begann traurig. Luzie hatte schon früh ihre Mutter verloren und darunter sehr gelitten. Doch dann begab sie sich auf eine Reise nach Venedig. Josephine seufze bei dem Gedanken an Urlaub. Zu gerne würde sie selbst auch weg fahren, ausspannen und Abenteuer erleben. Doch ihre Eltern hatten ihre Pläne durchkreuzt. Sie hatten den lang geplanten Urlaub nach dem Abitur nicht mehr finanzieren wollen, so lange bis sie endlich einen Plan hätte, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte. Sie war 18 Jahre alt und dennoch sagten ihre Eltern ihr, was sie tun sollte. Das nervte. Vielleicht hätte sie doch ein Auslandsjahr machen sollen, weit weg von allem hier, aber irgendetwas hatte sie immer davon abgehalten, weiter zu recherchieren und die Pläne um zu setzen. Sie wusste selbst nicht, was es gewesen war.
Jetzt saß sie hier in Köln auf der Domtreppe und las ein Buch über eine Sechzehnjährige, die alleine nach Venedig reiste …
„Na, geht es dir wieder besser?“ Josephine blickte von ihrem Buch auf in das strahlende Gesicht von Marcel. Sie wussten doch beide, dass sie keine Kreislaufprobleme gehabt hatte, oder nicht? Gemeinsam gingen sie um den Dom herum zu einem kleinen Platz in der Nähe. Ein wunderschöner Brunnen stand dort, der Heinzelmännchen Brunnen zu Köln.
„Du kennst die Geschichte?“, fragte Marcel unvermittelt. Josephine nickte. Als Kind hatte sie die Ballade von August Kopisch sogar mal auswendig gekonnt.
Wie war zu Köln es doch vordem
Mit Heinzelmännchen so bequem!
Denn, war man faul,… man legte sich
Hin auf die Bank und pflegte sich:
Da kamen bei Nacht,
Ehe man’s gedacht,
Die Männlein und schwärmten
Und klappten und lärmten,
Und rupften
Und zupften,
Und hüpften und trabten
Und putzten und schabten…
Und eh ein Faulpelz noch erwacht,…
War all sein Tagewerk… bereits gemacht! [weiter beim Projekt Gutenberg]
„Ich hatte dir ein Eis versprochen, lass uns da vorne einen Tisch suchen“, schlug Marcel vor und Josephine folgte ihm. Sie wählten eine Weile lang schweigend jeder einen Eisbecher, dann gab es keinen Grund mehr das Gespräch weiter hinaus zu zögern. „Wer bist du Josephine und was hast du eben im Laden gesehen?“ Sie seufzte, hatte auf Antworten gehofft und war auf keine Erklärungen gefasst gewesen. „Ich weiß es nicht, ehrlich. Es fing vor kurzem an, dass ich seltsame Dinge sehe. Eigentlich war es ja nur neulich in der Rheinaue, danach war ich eine Weile krank und es ist nichts ungewöhnliches geschehen. Bis eben …“ Sie betrachtete Marcel, doch nichts geschah. Der junge Mann saß ihr gegenüber und war genau derjenige, den sie kannte. „Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll. Es war merkwürdig, aber auf einmal warst du nicht mehr du. Du warst viel kleiner und irgendwie, ja, du sahst aus, wie ein Kobold.“
Entschuldigend und erwartungsvoll schaute sie ihn an. Er seufzte diesmal und nickte. „Du hast mich erkannt. Das ist unglaublich. Bevor ich dir mehr erzähle, musst du mir versprechen, niemandem davon zu erzählen.“ Sie nickte, aber das genügte ihm. „Vielleicht erzählst du mir dann später auch deine Geschichte über die Drachenschuppe?“ Sie nickte wieder, froh, endlich mit jemandem darüber sprechen zu können.
„Ich habe noch nie mit jemandem darüber gesprochen“, begann Marcel seine Geschichte. „Die Heinzelmännchen zu Köln sind eine Legende mit einem wahren Kern. Der wahre Kern liegt bei meinem Ur-Ur-Großvater und seiner Familie. Ich bin kein guter Geschichten-Erzähler, entschuldige. Jedenfalls war meine Familie tatsächlich so etwas wie gute Hausgeister. Wir waren fleißig und haben den Menschen geholfen, dafür haben wir in ihren Häusern gewohnt und uns an ihren Vorräten bedient. Alles war gut, bis wir vertrieben wurden. Das war allerdings ein wenig anders, als in der Geschichte. Die Welten trennten sich. Mein Ur-Ur-Großvater war einer der wenigen, die es geschafft haben hier in Köln zu bleiben. Er hat weiterhin im Verborgenen gelebt und wir haben uns angepasst. Daher kann ich jetzt als Mensch mit dir in der Eisdiele sitzen, auch wenn ich sagen wir mal anders bin. Die Trennung der Welten hängt am seidenen Faden und ich vermute mal, genau hier kommst du ins Spiel. Vielleicht war es gar kein Zufall, dass du dich so zur Buchhandlung hingezogen fühlst. Vielleicht sollten wir uns begegnen.“
Marcel wurde nachdenklich und sie schwiegen eine Weile. Schließlich erzählte Josephine das Wenige, was sie selbst bisher erlebt hatte. Sie fühlte sich erleichtert, es war alles nicht nur Einbildung, der Lilling bei ihr zu Hause entsprang keinem Fiebertraum. Es gab sie tatsächlich diese andere Welt, die der Fantasie und der Märchenwelt entsprungen zu sein schien. Noch begriff Josephine ihre Rolle nicht, aber Marcel und sie waren sich einig, sie würde ihre Antworten nur in Königswinter finden können.
Eine Bitte hatte Marcel dann doch noch: „Bitte sag es keinem meiner Kollegen, sonst wird von mir erwartet, dass ich nachts mit Freuden das Lager aufräume. Solch ein Hausgeist möchte ich dann doch nicht sein.“
Josephine grinste ihn über die ÜBERRESTE ihres Eisbechers hinweg frech an. Dann fielen sie beide gemeinsam in ein herzhaftes Lachen ein. Sie wussten, sie konnten einander vertrauen, sie würden ihre Geheimnisse wahren. Es würde ihnen eh kaum jemand Glauben schenken.
Marcel bezahlte die Kellnerin. „Hast du gerade nicht ein wenig viel Trinkgeld gegeben?“ Er warf einen Blick auf die Rechnung und nickte. „War wohl ein RUNDUNGSFEHLER.“ Wieder grinste sie ihn frech an: „Gut, dass Sie nicht an der Kasse sitzen Herr Buchhändler.“
„Du kleiner Frechdachs“, schalt er sie, doch es machte sich kein UNMUT breit. Zufrieden verließen die beiden das Eiscafe, schlenderten noch einmal zum Heinzelmännchen-Brunnen hinüber. „Irgendwie sind die viel zu niedlich dargestellt“, murmelte Josephine.
***
Für die Figur Marcel gibt es tatsächlich eine reale Vorlage, den Buchhändler Marcel, der mit seiner Kollegin Jenny die Aktion Save Ludwig ins Leben gerufen hat. Im letzten Kapitel steckte noch viel vom „echten Marcel“, hier greift die künstlerische Freiheit … oder die Magie Kölns? Wer weiß das schon.
Die Buchhandlung Ludwig gilt es nach wie vor zu retten! #saveLudwig