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Nach dem Frühstück versammelten sie sich noch einmal im Steingarten. Auch bei Tageslicht waren die Ereignisse des Vorabends noch immer unglaublich. Das steinerne Bett Schneewittchens war nun leer. Es wurde nach wie vor umringt von sieben stummen Zwergen. Sie waren noch immer aus Stein, der Zauber hatte sich nicht gelöst. Schneewittchen ging von einem zum nächsten, stricht ihnen über die steinernen Bärte und vergoss für jeden eine Träne. „Ihr habt das für mich getan. Ihr habt darauf vertraut mit mir zu erwachen. Ich habe euch enttäuscht“, sprach sie und setzte sich auf die steinerne Plattform. Dann blickte sie reihum in die Gesichter, die sie umgaben. Lore lächelte ihr aufmunternd zu. Sie vertraute der Frau, die in dieser Nacht nicht von ihrer Seite gewichen war, sie wie eine Mutter versorgt hatte. Sie war ihr vertraut, obwohl sie sich kaum kannten. Sie war eine Nachfahrin der Familie ihrer Mutter. Lore gab ihr die Sicherheit, die sie brauchte, nachdem sie in dieser fremden Umgebung erwacht war.
Neben Lore stand der freundliche Burgherr. Sie erkannte in ihm den Zwergenkönig, auch wenn er deutlich größer, jedoch für einen Menschen recht klein war. Bisher hatten sie kaum Gelegenheit gehabt ihn näher kennen zu lernen. Er wirkte freundlich und gab ihr das Gefühl, dass ihr innerhalb seiner Burgmauern nichts passieren konnte.
Ihr Blick wanderte weiter zu den jüngeren Menschen, zunächst zu Jenny, die ihr einige Kleidungsstücke überlassen hatte. Daneben stand Josephine, die nicht zur Familie gehörte und offenbar die Freundin des jungen Mannes war, der sie so sehr verwirrte. Er hieß Sven, war aber nicht der, der er zu sein schien. Auch er war größer, menschlicher. Sie wusste, er war nicht derjenige, der sie zuletzt so tief berührt und in ihren Träumen stets begleitet hatte. Er sei verschwunden, hatte Lore ihr erklärt. Niemand hatte den Zwergenprinzen seit jenem Tage mehr gesehen, an dem er sie versteinert hatte. Gemeinsam mit ihrem Vater und den sieben treuen Zwergen war sie auf diese Burg gebracht worden. Heim zu ihrer Familie. Nun da sie erwacht war, lebte keiner der Menschen von damals mehr. Stattdessen hatte sie eine neue Familie und Sven war ein Teil ihrer Familie. Doch ihr Herz wollte das nicht begreifen. Es schmerzte sie sehr, ihn anzusehen, noch mehr zu sehen, wie diese Frau ihm die Hand hielt.
Sie wandte den Blick ab. In den Augen des anderen jungen Mannes fand sie Ruhe und das Gefühl von Sicherheit kehrte zu ihr zurück. Es war als spiegelte sie sich selbst in seinem Blick. Er war so schön, wie eitel der Gedanke doch war. Sah er doch aus, wie ihr Zwilling mit kurzem Haar. Seine Gesichtszüge waren ein wenig männlicher, als die ihren und doch noch weich, nicht hart und kantig. Nicht den Hauch eines Flaums zeigte sich in seinem Gesicht. Ob er noch zu jung für einen Bart war?
Er kam zu ihr. „Ich bin selbst noch völlig verwirrt“, sagte er. „Doch für dich muss es alles noch schlimmer sein, schließlich sind wir für dich alle fremd.“ Sie nickte und fühlte sich verstanden. Lore hatte ihr erzählt, dass Lukas erst in dieser Nacht von der Anderswelt erfahren hatte, auch dass sie es ihm zu verdanken hatte, dass sie erwacht war. Er war ihr Seelengefährte. Die Wahrheit dieser Aussage war für sie spürbar, was es bedeutete lag noch im Unklaren.
Eine Weile langen schwiegen wieder alle. Es war kein unangenehmes Schweigen, sondern ein Beisammensein, dass sich für jeden einzelnen gut anfühlte. Zu viele Fragen waren offen, Fragen, die nicht einfach zu beantworten waren. Das brauchte Zeit.
Henry räusperte sich, blickte ebenfalls in die Runde, wie es Schneewittchen getan hatte und sprach die Worte, die diesen gemeinsamen Moment beenden würden:
„Liebe Familie, es wird Zeit Abschied zu nehmen. Lore hat mit Schneewittchen bereits besprochen, dass sie hier bei uns wohnen wird. Es gibt vieles, was sie erfahren und lernen muss, sowohl über unsere als auch über die Anderswelt. Ihr alle habt euer Leben außerhalb dieser Mauern in das ihr nun zurück kehren werdet. Wir bleiben in Kontakt und sehen uns bald wieder, um gemeinsam die vielen offenen Fragen zu klären. Lore und ich bleiben hier und helfen Schneewittchen dabei, sich zurecht zu finden. So schwer es euch auch fällt, insbesondere dir Lukas, es muss sein. Morgen hast du wieder Schule. Ich hoffe, Jenny und Johanna werden dir und Sven helfen mit dem neuen Wissen zurecht zu kommen. Vergesst niemals, ihr seid nicht allein!“
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