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Schneewittchen erwachte – ungeküsst. Sie blickte in ein fremdes Gesicht, spürte eine fremde Hand auf ihrem Arm. „Lass mich los“, hauchte sie. Ihre Stimme war schwach. Er verstand sie, löste den Griff, aber starrte sie weiterhin an. Sie löste ihren Blick von ihm und blickte in ein anderes Gesicht, ein vertrauteres. Es war ein wenig wie ein Blick in einen Spiegel in dem etwas nicht stimmt. Das Gesicht war wie das ihre, das Haar jedoch so kurz und er war ein er. Es war, als blickte sie in das Gesicht ihres männlichen Zwillings. Sie blickten einander in die Augen. Er lächelte. Sie ebenfalls, auch das fiel ihr nicht leicht. Ihr Gesicht fühlte sich starr an. Was stimmte nicht mit ihr? Die Aufmerksamkeit nach innen wendend spürte sie ihren Körper, spürte wie sie auf einem harten Untergrund lag. Langsam bewegte sie ihre Finge, ihre Zehen. Alles war so steif, die Muskeln hart, beinahe steinern. Langsam setzte sie sich auf. Der Fremde, der sie bereits zuvor angefasst hatte, legte einen Hand auf ihren Rücken, um ihr zu helfen. Sie wehrte sich nicht.
Als sie saß, blickte sie sich um. Da waren noch mehr Menschen, weitere fremde Gesichter, ein älterer Herr und eine junge Frau. Niemand sprach, alle starrten sie an. Eine ältere Frau kam herbei und reichte ihr ein fremdartiges Gefäß mit einer Flüssigkeit. „Trink Schneewittchen, das wird dir helfen. Hab keine Angst, wir werden dir alles erklären. Ganz langsam.“ Diese Frau war ihr fremd und zugleich vertraut. Ihre Stimme war so angenehm beruhigend. Sie nahm einen Schluck Wasser. Sie spürte, wie die Flüssigkeit durch ihren Mund in ihren Körper rann. Es tat so gut. Sie nahm einen weiteren Schluck. „Langsam“, ermahnte sie die freundliche Frau, die sich nun neben sie setzte. „Lass dir Zeit, du hast sehr lange geschlafen.“
Geschlafen, ja sie hatte geschlafen. Nun war sie wach. Doch wo sie war, das wusste sie nicht. Es war dunkel. Am Himmel leuchteten Sterne, sie war also draußen. Warum hatte sie draußen geschlafen und nicht in der Hütte? Der Blick in den Himmel kam ihr fremd vor, sie war nicht einmal in der Nähe der Zwergenhütte. Doch wo war sie dann? Wo waren die Zwerge? Sie trank weiter und blickte sich um. Ein leiser Schrei, kräftiger als ihre ersten Worte, aber doch noch leise und brüchig, entkam ihrer Kehle. Die Zwerge. Sie waren hier. Waren sie es? Sie wollte aufspringen, zu ihnen eilen, wäre beinahe gestürzt, wenn die freundliche Frau nicht nach ihrem Arm gegriffen hätte. Der Mann mit ihrem Gesicht war auf einmal an ihrer anderen Seite, legte sich ihren Arm um und sagte: „Hör auf Tante Lore, mach langsam. Ich verstehe auch nicht, was hier gerade passiert, aber ich bin sicher, für dich ist das alles noch verwirrender. Ich bin Lukas.“ Sie lächelte, ein Mensch, ein Name. Zwei Namen, Lore und Lukas. Die beiden hielten sie, während ihre Beine sich an das Stehen gewöhnten. Sie blickte die anderen auffordernd an und sie stellten sich ebenfalls vor. Henry, Sven und Josephine. Eine weitere junge Frau war da, die sie bisher nicht gesehen hatte. Sie stellte sich als Jenny vor.
Je länger sie abwechselnd in die Gesichter der Menschen blickte, desto sicherer war sie sich, dass von ihnen keine Gefahr ausging. „Setz dich wieder“, forderte Henry sie auf. „Dann versuchen wir dir alles zu erklären, so gut wir können.“ Sich noch immer schwach fühlend, folgte sie seinem Rat. Lukas und Lore blieben an ihrer Seite. Jenny kam auf sie zu und reichte ihr eine Platte. Darauf lagen Brot und fremd wirkende Speisen. „Als Lucinda uns berichtete, dass du erwacht bist, dachten wir, du bist bestimmt hungrig.“ Schneewittchen lächelte sie dankbar an. Ein kleines zartes Wesen flog herbei und setzte sich auf ihr Knie. Das kleine Lilling-Mädchen war für Schneewittchen ein vertrauter Anblick. Vorsichtig probierte sie von den Speisen. Es schmeckte köstlich.
„Was ist mit meinen Freunden?“, fragte Schneewittchen.
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