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„Es war einmal eine junge Frau, deren Haut sehr blass war, dagegen ihr Haar so schwarz wie Ebenholz und ihre Lippen so rot wie Blut. Alle nannten sie Schneewittchen und ihr wirklicher Name geriet in Vergessenheit. Sie war die einzige Tochter des letzten Menschenkönigs der Anderswelt. Die meisten Menschen fühlten sich nicht mehr wohl, glaubten dort nicht hinzugehören, weil sie anders waren. Es fehlte ihnen an magischen Fähigkeiten. So verließ nahezu eine ganze Generation die Anderswelt. Auch die Schwester des Königs war in die Welt der Menschen zurückgekehrt, sobald Schneewittchen das Jugendalter erreicht hatte. Die Königin war bei der Geburt des Mädchens gestorben. Vater und Tochter waren allein, es gab keine Familie mehr. Die Sorge des Königs galt der Frage, mit wem er seine Tochter vermählen sollte. Wie könnte er die Position der Menschen in der Anderswelt stärken, wenn kaum noch welche dort weilten.
Als Schneewittchen mitbekam, dass ihr Vater mit den Verhandlungen über ihre Zukunft begann, floh sie in den Wald. Leider hatte sie das nicht geplant und lief ohne Proviant oder warme Kleidung davon. So erreichte sie kurz vor Einbruch der Dämmerung eine kleine Hütte, wo sie Nahrung und ein Bett zum schlafen fand.
Über sieben kleine Bettchen quer liegend wurde sie von den Zwergen gefunden. Sie weckten das Mädchen, lauschten ihrer Geschichte und nahmen sie bei sich auf. Sie führte den Zwergen den Haushalt, während diese in den Bergen nach Erz und Gold suchten. Es war ein einfaches, aber glückliches Leben. Die Zwerge erzählten ihr lustige Geschichten und es fehlte ihr an nichts. Hin und wieder vermisste sie ihren Vater, traute sich aber nicht zurück.
Eines Tages ging Schneewittchen im Wald spazieren. Dort begegnete sie einer wunderschönen Frau. Ihre Haut war ebenso hell, wie die Schneewittchens. Die beiden kamen ins Gespräch, badeten zusammen im Bach und Schneewittchen ließ sich von der neuen Freundin das Haar kämen. Viel zu lange hatte sie keine Freundin mehr gehabt, sodass sie abends glücklich heim kehrte. Dort warteten sieben hungrige Zwerge auf sie. Rasch bereitete sie ein Abendbrot. Am nächsten Morgen erwachte sie mit fürchterlichen Knoten im Haar. Sie fluchte, kämmte und auf dem Boden um sie herum verteilten sich Strähnen schwarzen Haares. Da klopfte es an der Tür. Draußen stand die hübsche Freundin mit einem Korb Äpfeln. „Es ist schön dich wieder zu sehen, Schneewittchen. Ich habe frische Äpfel, wollen wir deinen Zwergen einen Kuchen backen?“ So buken die beiden einen Kuchen, der so gut duftete, dass sie nicht auf die Zwerge warten wollten. Schneewittchen nahm den ersten Bissen, kaute genüsslich und fiel bewusstlos hin. Die Frau lächelte zufrieden, nahm den Kuchen an sich und verließ die Hütte. Unterwegs traf sie die heimkehrenden Zwerge, die sie freundlich grüßten, nichts ahnend, wem sie da begegnet waren.
Die Trauer um Schneewittchen war groß, denn keiner der Zwerge vermochte sie zu wecken. Einer eilte fort, ihren Vater zu benachrichtigen, ein anderer, den Zwergenkönig um Rat zu fragen. Beide kamen schnell, fanden das schöne Mädchen leblos in der Hütte der Zwerge liegen. Sie wussten keinen Rat und der Menschenkönig weinte viele Tränen. Währenddessen ließ sich der Zwergenkönig die ganze Geschichte erzählen. „Wer war wohl diese fremde Frau? So wie ihr sie beschreibt, mag sie wohl eine Elfe gewesen sein“, grübelte er. Die Zwerge stimmten ihm zu und so fragte er seinen Menschenfreund: „Kann es einen Grund geben, warum die Elfen, den Tod deiner Tochter wünschen?“ Allein diese Frage löste erneutes verzweifeltes Schluchzen aus. Nach einer Weile begann der König zu sprechen:
„Ihre Mutter war eine Elfe. Ihre Familie hat es ihr nie verziehen, dass sie mich geheiratet hat. Damit wenigstens die Menschen ihr weiterhin Vertrauen entgegenbringen, haben wir ihre Herkunft verheimlicht. Unser Schneewittchen ist eine Halbelfe, die erste so weit ich weiß. Zumindest war ihre Mutter die erste Elfe, die sich mit einem Menschen eingelassen hatte, einem minderen Wesen, das zu keiner Magie fähig ist. Ich habe Schneewittchen beobachtet, in ihrer Kindheit gab es keine Anzeichen, dass sie eine magische Begabung hat. Ich weiß es nicht.“ Erneut gab er sich einem Weinkrampf hin.
„Die Elfen machen Schneewittchen für den Tod ihrer Mutter verantwortlich und dich dafür, dass du sie entführt hast. Elfen sind ein schwieriges Völkchen. Doch wenn Elfenblut durch die Adern deiner Tochter fließt, ist sie nicht verloren. Es mögen Jahrhunderte vergehen, bis sie erwacht, doch wenn du meinem Sohn erlaubst, ihren Körper zu versteinern, bis es so weit ist, wird sie eines Tages erneut erwachen. Der Tag wird kommen, wenn ihr Seelengefährte sie findet. Bringe sie in Sicherheit, am besten außerhalb der Anderswelt, vertraue die Wahrheit nur wenigen an und habe Geduld. Auch wenn du den Tag vielleicht nicht mehr erleben wirst, deine Tochter wird eines Tages eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, die Menschen und die Bewohner der Anderswelt wieder zu vereinen. Vertrau mir mein Freund.“
Die Könige umarmten einander freundschaftlich. Der Zwergenprinz tat sein Werk und die Sieben nahmen Abschnied von ihrer Freundin.
Die letzte Tat des Königs war, das steinerne Schneewittchen aus der Anderswelt hinauszuschaffen. Er brachte sie zu seiner Schwester, dass sie über das Mädchen wachen möge. Dann starb er vor Kummer, ohne Nachfolger und die Zeit der Menschen in der Anderswelt endete. An dem Tag an dem Schneewittchen erwacht, könnte sich dies wieder ändern.“
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