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Die Feier am Abend verlief ähnlich wie das Abendessen am Vorabend. Es waren lediglich mehr Gäste anwesend, alle noch eleganter gekleidet und Josephine ließ die familiären Vorstellungsgespräche gelassener über sich ergehen. Sie war nun Teil des „Geheimclub Anderswelt“ wie Sven ihre kleine Gruppe bestehend aus Opa Henry, Großtante Lore, seiner Schwester Jenny und ihnen beiden nannte. Damit gehörte sie beinahe mehr zur Familie, als manch einer der neugierigen entfernten Verwandten, die sie darüber ausfragten, was sie denn mit ihrem Leben vorhätte.
Nach jedem Gang fand jemand anderes seinen Weg zu ihrem Tisch. Es wurden Reden auf den Burgherren geschwungen, aber auch sehr viel gelacht. Eine steife Party hätte zu Opa Henry auch nicht gepasst. Nach dem Nachtisch gab er Josephine und Sven quer durch den Raum ein Zeichen, er wollte sie draußen treffen. Während Josephine mit den Gesten des alten Mannes nichts anfangen konnte, führte Sven sie zielstrebig zum steinernen Schneewittchen, wo Henry sie bereits erwartete. Wie hatte er vor ihnen hier sein können? Wie seinen Gästen entwischen können?
„Es ist deine Feier, Opa“, wunderte sich Sven. „Du sagst es, mein Junge. Und genau, weil es meine Feier ist, kann ich auch ganz alleine entscheiden, wann ich ein wenig Zeit mit meinem Enkel und seiner Freundin hier draußen an der frischen Luft verbringen möchte.“ Dabei zwinkerte er Josephine zu, die ihm nicht widersprach. Er hatte Recht, auch wenn die meisten der Gäste sicher nicht angetan waren von seinem Verschwinden. „Die meisten sind eh nur hier, um sich den Bauch vollzuschlagen und sich von meinem Gesundheitszustand und dem Zustand der Burg zu überzeugen. Einige schleimen sich noch ein wenig ein, damit ich sie auch ja nicht in meinem Testament vergesse. Doch deswegen sind wir nicht hier. Sven, wie ich deine Eltern kenne, werden sie morgen zeitig aufbrechen wollen, es ist ein Segen, dass ihr bereits gestern hier angekommen seid. Daher möchte ich jetzt die Gelegenheit nutzen, dir liebe Josephine, die Sage von Schneewittchen zu erzählen.“
„Ist es nicht ein Märchen?“
„Ja, die Brüder Grimm haben das Märchen aufgeschrieben, ich erzähle dir die Sage, wie sie innerhalb unserer Familie überliefert wurde. Vor langer Zeit verließ die ursprüngliche Geschichte unsere Familie, als eine Dienstmagd sie einst belauschte und weiter erzählte. Doch sie veränderte sich rasant, wie es bei mündlichen Überlieferungen nicht verwundert. Jeder dichtet beim weitererzählen etwas hinzu, lässt etwas weg oder verändert die Ereignisse. Die Figur der Stiefmutter gibt es in unserer Version nicht, aber sie ist eine starke Figur in vielen Märchen, eine klassische Antagonistin. Die Patchworkfamilie von einst hatte aber auch einfach mit anderen Problemen zu kämpfen als heute. Damals stellte sich selten die Frage, wie verschiedene Familien zu bestimmten Ereignissen, wie Geburtstage des Kindes, Weihnachten oder gar Schulabschlüsse aufgeteilt werden können, schließlich war in der Regel die Stiefmutter Ersatz für die verstorbene Mutter. Man erkennt ähnliche Motive bei Aschenputterl, Hänsel und Gretel, aber eben auch im Märchen von Schneewittchen.
Wenn ich dir die Sage erzähle, wie sie innerhalb unserer Familie überliefert wird, fehlt dort die Stiefmutter und die Geschichte klingt ein wenig anders. Auch die Familiensage ist mündlich überliefert und damit auch nicht frei von Veränderungen, dennoch haben wir hier den wahren Kern unbestreitbar vor uns liegen, das steinerne Schneewittchen persönlich, ebenso ihre sieben Zwerge …“
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