Dies ist das 39. Kapitel des Blogromans.
Das erste Kapitel findest du hier, du kannst auch von Kapitel zu Kapitel blättern.
Lore seufzte schwer, bevor sie zu sprechen begann. „Sven, mein lieber Junge. Du ahnst nicht, wie sehr ich mir gewünscht habe, offen mit dir über alles zu sprechen. Doch ich hatte nicht erwartet, dass es so kommen würde. Ja, eigentlich hatte ich es gar nicht mehr erwartet. Um deine Frage zu beantworten, wir, deine Familie, haben sehr viel damit zu tun. Wir sind eng mit der Anderswelt verbunden. Es ist kompliziert.“ Hilfe suchend blickte sie zu Jenny, doch auch sie wusste nicht, wie sie ihrem Bruder die Situation erklären sollte. Normalerweise brauchten sie anderen die Verbindung zur Anderswelt nicht zu erklären. Normalerweise schwiegen sie darüber. Normalerweise war hier einfach nicht angebracht, nichts war normal an dieser Situation. Nicht einmal die Verbindung der Familie zur Anderswelt konnte als normal angesehen werden. Das wäre es früher vielleicht mal gewesen, vor langer, sehr langer Zeit.
„Nun gut mein Junge“, setzte Lore erneut an. „Wir, deine Schwester, ich, dein Großvater, wir haben eine Verbindung. Deine Freundin hat sie auch.“ Sven, der noch immer Jospehine im Arm hielt, wurde ungeduldig. „Dir ist schon klar, dass du um den heißen Brei herumredest, Tante Lore?“ Ja, das war ihr klar, doch sie fand keine Worte, so sehr sie auch verstand, dass Sven die Wahrheit verdient hatte. „Wer ist das?“, rief Sven erstaunt aus. Eine junge Frau stand plötzlich hinter seiner Tante, wunderschön und irgendwie nicht von dieser Welt. „Sven“, begann sie mit einer hellen, liebevollen Stimme zu sprechen. „Du wirst alles verstehen, aber sei deiner Familie nicht böse. Eine Situation wie diese ist unvergleichlich, denn üblicherweise finden sich die Seelengefährten und dann ist es viel einfacher alles zu erklären. Es braucht wenig Erklärungen bei einer solchen Begegnung.“ Dabei lächelte sie Josephine an, die verstehend nickte. Ja, als Johanna ihr zum ersten Mal begegnet war, hatte sie ihr einfach vertraut, hatte sich auf das Unglaubliche eingelassen und keine Erklärungen gefordert. Es hatte sich alles richtig angefühlt. Hier im dunklen Garten zu sitzen und Sven alles zu erklären, fühlte sich falsch an, völlig falsch.
Die fremde Frau legte Lore die Hand auf die Schulter und Josephine erkannte die Verbindung der beiden. Es war das Gesicht der jungen Frau, dass sie durch den Schleier in Lore gesehen hatte. In jungen Jahren sahen die beiden sich wahrscheinlich ebenso zum Verwechseln ähnlich wie sie und Johanna. Mit einem Zwinkern bestätigte Lore ihre Vermutung. Endlich fand sie auch ihre Worte wieder.
„Vielleicht erzähle ich dir einfach meine Geschichte. Darin wirst du nicht alle Antworten finden, die müssen wir noch gemeinsam suchen. Wie du ja weißt, starb meine Mutter bei meiner Geburt. Noch während die Hebamme um ihr Leben kämpfte, erschien Loreley. Sie kam und sie blieb, zog mich auf, kümmerte sich auch um meinen älteren Bruder. Mein Vater war ihr so dankbar, dass er nichts hinterfragte. Sie war für ihn der rettende Engel, er ließ sie gewähren und nahm sich lange Zeit, um Mutter zu trauern. Er gab mir ihren Namen, den meines Schutzengels. Niemals erfuhr er, wie nah er der Wahrheit kam. Er erlebte auch nicht mehr, dass wir einander ähnlicher sahen, je älter ich wurde. Loreley musste uns verlassen, denn die Leute hätten Fragen gestellt, hätten meinem Vater alles mögliche unterstellt. Doch ich bin die Tochter meiner Mutter und Loreley ist meine Seelengefährtin aus der Anderswelt. Sie verließ mich natürlich nicht wirklich, lebte nur nicht länger bei uns auf der Burg. Mein Vater hatte eine jüngere Schwester, die die Vormundschaft über mich und meinen Bruder übernahm. Den Teil der Geschichte kennst du ja.“
Die Trauer ließ sie auf einmal deutlich älter wirken, als sie verstummte und ihren viel zu früh verstorbenen Eltern gedachte. Loreley übernahm die Geschichte. „Wir haben uns tatsächlich früh gefunden, das war ungewöhnlich. Üblicherweise finden sich die Seelengefährten erst in der Jugend. So geschah es auch bei deinem Großvater, Sven. Er war bereits fünfzehn Jahre alt. Es war für mich ein Segen, dass er auch zu uns auf die andere Seite kommen konnte. Endlich sah ich ihn wieder, hatte den kleinen Jungen schmerzlich vermisst. Doch das Wiedersehen war ein wenig wie heute. Er sah mich ebenso skeptisch an wie du jetzt. Weißt du eigentlich, wie ähnlich du deinem Großvater siehst? Nun, er war wütend, wütend, dass ich ihn verlassen hatte. Als seine Mutter starb war er vier Jahre alt gewesen und so waren seine Erinnerungen an mich stärker und der doppelte Verlust sehr schwer für ihn gewesen. Als er erfuhr, dass Lore in den letzten Jahren weiterhin mit mir in Kontakt stand, war er so wütend, dass er einige Wochen nicht mehr mit uns sprach. In dieser Zeit entdeckte er die Anderswelt, lernte seinen Seelengefährten näher kennen. Ganz langsam begriff er, was geschehen war und warum ich ihn hatte verlassen müssen. Glaub mir Sven, ich habe ihn immer beobachtet, habe seine Nähe gesucht, aber durfte mich ihm einfach nicht zeigen. Es war zu gefährlich. Ich weiß, er brauchte lange, es zu verstehen. Nimm dir bitte auch die Zeit, die du brauchst. Deine Situation ist allerdings komplizierter. Offenbar hast du eine Verbindung zu uns, aber keinen Seelengefährten. Das ist das große Rätsel, welches wir gemeinsam lösen können. Bis du bereit?“
Sven sagte gar nicht. Bereit? Bereit wozu? Diese Stimme, die ihm gerade ein unglaubliches Märchen über seinen Großvater und seine Großtante erzählt, vielmehr gesungen hatte. Sie hatte ihn eingelullt in eine Wattewolke. Es fühlte sich alles so leicht an. Oder war das der Alkohol, den er heute Abend getrunken hatte. Seine Freundin in den Armen haltend, wollte er zu dieser blonden Frau, die hinter seiner Tante stand. Gleichzeitig sah er in ihr seine Tante und das stieß ihn wieder ab. Sie lächelte. „Ich weiß, was in die vorgeht, junger Mann. Ich bin Loreley. Die Magie meiner Stimme wirkt auch auf dich, gleichzeitig stören die familiären Bande und die Liebe zu deiner Freundin eben diese. Du bist stark und wirst mir widerstehen. Vertrau auf dich selbst und es wird leichter. Wir werden schon bald wie zwei Freunde miteinander sprechen können.“ Dabei war sie so wunderschön. Sven starrte sie an. Da waren so viele Fragen in seinem Kopf …
„Kommt“, erklang erneut die wunderbare Stimme. Ohne weitere Erklärungen lief Loreley leichtfüßig davon. Tante Lore folgte ihr sofort. Ihr graues Haar hatte sich gelöst, fiel ihr lang über den Rücken. Hand in Hand gingen Lore und Loreley über die Wiese, beide barfuß wie zwei junge Mädchen, mit wehendem Haar, blond und silbern. Josephine erhob sich ebenfalls, nahm Svens Hand und sie folgten den beiden.
***