Dies ist das 30. Kapitel des Blogromans.

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Sonntagsgeschichte Kapitel 30

Gemeinsam traten sie durch das große Portal und kamen in eine Eingangshalle. Beinahe erwartete Josephine das obligatorische Kassenhäuschen und die Filzpantoffeln, die sie über ihre Schuhe ziehen würde, um das Parkett zu schonen. Doch die Aquilaburg war im Privatbesitz, im Besitz der Familie ihres Freundes Sven. Der Burgherr ging an ihrer Seite, reichte ihr seinen Arm und lächelte sie so vertraut an, als gehöre sie bereits zur Familie. Was hatte er zu ihr gesagt? „Willkommen zu Hause.“ Svens Opa war schon ein komischer Vogel, aber der alte Herr war ihr sympathisch. Sie hakte sich bei ihm ein und sah sich in der Eingangshalle um, während sie hindurch lief. Sie sah nichts. Es gab keine Möbel, keine Gemälde an den Wänden, gar nichts. Die Halle wirkte wenig einladend, doch wer hielt sich schon gerne im Eingangsbereich auf? Sie betraten einen Gang, ein Bediensteter hielt ihnen die Tür auf. Josephine bedankte sich höflich, aber er reagierte nicht. War das hier etwa wie im Schloss der Queen, wo die Wachen nicht lachen dürfen und die Touristen sich eine Menge Blödsinn einfallen ließen, um ihnen eine Reaktion zu entlocken?

Vor ihnen erstreckte sich ein endlos scheinender Korridor. Vielleicht konnte Josephine das Ende auch nur nicht sehen, weil Sven, Jenny und ihre Eltern die Sicht versperrten. An den Wänden hingen Gemälde, wie in den zahlreichen Burgen und Schlössern, die sie bereits besichtigt hatte. Wahrscheinlich ehemalige Burgherren. Es hingen allerdings auch erstaunlich viele Frauen und Kinder an den Wänden, das war ihr weniger vertraut. „Das ist ja Sven“, entdeckte sie und blieb stehen. Der Großvater lachte und deutete auf die Jahreszahl unten rechts in der Ecke. Das Bild stammte aus dem 19. Jahrhundert und der Junge, der vielleicht 10 Jahre alt war, konnte unmöglich Sven sein. Sie sah dem alten Herrn in die Augen, erkannte zum ersten Mal die Ähnlichkeit zu Sven, auch wenn ihr Freund locker zwei Köpfe größer war als sein zwergenhafter Opa. „Es ist mein Großvater Heinrich. Ich bin übrigens Heinrich, der 13. verehrtes Fräulein, aber du darfst mich gerne Hein nennen. Die übrigen Heinriche hängen hier auch alle rum. Du wirst noch Zeit haben sie dir anzusehen, wenn du magst.“ Josephine nickte, warf noch einen Blick auf das Gemälde, Sven sah seinem jungen Ur-Großvater erstaunlich ähnlich.

Als sie weiter gingen, sah Josephine gerade noch Sven und die anderen in einem Raum verschwinden. Offenbar hatten sie ihr Ziel erreicht und die Besichtigung endete. Doch bevor sie den anderen folgte, entdeckte sie noch etwas interessantes. Auf die Wand gemalt erstreckte sich eine riesige Ahnentafel, ein Baum mit zahlreichen Verästelungen, die sie gar nicht alle überblicken konnte. Sie bückte sich und entdeckte ganz unten, nahe der Fußleiste die vertrauten Namen, Sven Heinrich. Er hieß also auch Heinrich, ebenso sein Vater, der sich ihr eigentlich als Hans vorgestellt hatte. Offenbar mochte er nicht Heinrich, der 14. sein und deswegen hatte er seinem Sohn den Namen auch nur als Zweitnamen gegeben. Sven Heinrich, der 15. also. Sie musste grinsen. Jennifer trug auch einen zweiten Namen, sogar einen dritten. Schnell erkannte Josephine, dass es die Namen ihrer Großmutter und Ur-Großmutter waren, Brunhilde und Josephine. Um Brunhilde beneidete sie Jenny wirklich nicht, aber, dass sie denselben Namen hatten, gefiel ihr. Vielleicht fühlte Jenny sich ihr deswegen so nahe?

Hein half ihr wieder auf. „Verliere dich nicht im Stammbaum der Familie. Die anderen sind bereits in den Festsaal gegangen. Dort erwarten uns die bereits eingetroffenen und noch lebenden Familienmitglieder. Wenn du möchtest, kannst du sie jetzt gleich alle kennen lernen.“ Er grinste sie verschwörerisch an. „Wenn du es vorziehst noch ein wenig Zeit mit dem alten Burgherren zu verbringen, zeige ich dir noch einen Ort, der dich sicher mehr interessiert als unsere Verwandtschaft.“

Er hatte ja so Recht. Auch wenn sie der Stammbaum an der Wand faszinierte, der offenbar mit Sven und Jenny aus Platzgründen enden würde, war sie wenig erpicht darauf, der lebendigen Familie vorgestellt zu werden. Der Burgherr schien sie gut zu kennen oder hatte sie schlicht durchschaut. Vielleicht hatte er selbst auch keine Lust auf die Familie, wer weiß. Sie folgten dem Gang, bogen ab, stiegen eine Treppe hinauf und kamen an einen Ort, den Josephine nie mehr verlassen wollte: die Bibliothek der Burg. Ehrfurchtsvoll blieb Josephine an der Tür stehen, atmete den Duft jahrhundertealter Bücher ein. Es roch nicht staubig, nur nach Wissen und uralten Geschichten. Sanft zog Hein sie in den Raum. Traumwandlerisch folgte sie ihm durch die Regale, nahm die Schrift auf den Buchrücken kaum wahr. Schließlich blieben sie vor einem Regal stehen. Die Bücher wirkten so alt, dass Josephine nicht wagte sie anzufassen, aus Angst sie würden dann zu Staub zerfallen. „Du kannst die alte deutsche Schrift lesen?“, fragte Hein. Sie nickte, konnte sie sogar schreiben. Ihre Ur-Oma hatte es ihr als Kind beigebracht. „Nur so bekommst du eine schöne Handschrift“, hatte sie stets gesagt und Recht behalten. Josephine bekam viele Komplimente für ihre Handschrift.

Sie überflog die Titel. Es waren alles Geschichten, nein Sagen und Legenden aus dem Rheinland. Woher wusste Hein, dass sie genau das interessieren würde? „Hier findest du Antworten, mein Kind“, sagte er, flüsterte es beinahe. Offenbar hatte auch er Ehrfurcht vor dem Wissen in diesem Raum. „Ich fürchte, ich werde erwartet. Findest du den Weg zurück zum Saal, wenn du Hunger verspürst?“ Sie nickte, verstand aber noch nicht. „Gut“, nickte er zufrieden. „Spätestens zum Abendessen, verrate ich Sven, wo du dich versteckst, dann wird er dich abholen.“ Sanft drückte er ihr den Arm zum Abschied und deutete mit einem Nicken auf einen Ohrensessel am Fenster. Neben dem Sessel stand ein kleiner Beistelltisch, darauf eine Karaffe mit Wasser und einem umgedrehten Glas.

Dann ging er und Josephine war allein, allein im Paradies aus Büchern.

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