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letztes Kapitel

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Josephine erwachte, blinzelte müde zum Fenster, es leuchtete hell orange-rot auf der Fensterbank auf. Sie blinzelte erneut und sah einen Vogel vor dem Fenster davon fliegen. Ein Phönix, oder einfach ein gewöhnlicher Vogel? Hatten ihre Sinne ihr gemeinsam mit der Herbstsonne an diesem Morgen einen Streich gespielt?

Ihr Leben war inzwischen so verrückt, dass sie alles für möglich hielt.

Gegen 10 Uhr stand sie vor ihrem alten Kindergarten und klingelte. Bewusst kam sie erst nach der offiziellen Bringzeit, zugegeben, sie hätte es auch nicht früher geschafft, aber sie hatte auch gelernt, wenn sie mit einer Erzieherin sprechen wollte, dann sollte sie niemals während der Bring- oder Abholzeit kommen. Außerhalb dieser Zeiten war die Eingangstür allerdings geschlossen und sie musste klingeln. Ihr wurde von einer jungen Praktikantin geöffnet, die sie noch auf halben Weg zu Daniela, ihrer alten Erzieherin, begleitete und dann im Gruppenraum nebenan verschwand. Jetzt im September befand sich der Kindergarten noch in der Eingewöhnungsphase für die neuen Kleinen.

„Josephine“ freute sich Daniela das Mädchen wieder zu sehen. Sie saß auf einem Stuhl am Basteltisch, umringt von vier Kindern, die alle etwas anderes von ihr wollten, ein kleines saß auf ihrem Schoß. „Es ist schön, dich mal wieder zu sehen. Setz dich zu uns, allerdings bin ich heute etwas im Stress, da ich alleine bin.“ Josephine verstand und half dem Mädchen neben ihr und schnitt ihr einen Anfang für die Innenfläche, die es ausschneiden wollte. Daniela lächelte ihr dankbar zu, half einem anderen Kind und gab Josephine ein Zeichen, dass sie ihr mit halben Ohr zuhören würde. Diese berichtete ihr von der Idee, wieder Märchen im Kindergarten vorzulesen. Sie brauchte gar nicht viel zu sagen, auch wenn sie länger nicht mehr hier war, wusste Daniela ihre Hilfe sehr zu schätzen und fragte nur: „Magst du jetzt gleich mit ein paar Kindern lesen?“ Kaum hatte sie zugestimmt, rief Daniela schon fünf Kinder herbei und schickte sie zusammen mit Josephine in den gemütlichen Ruheraum.

Nach einer kurzen Kennenlernrunde, schlug Josephine das Märchenbuch auf. Sie wollte aus Schneewittchen vorlesen. Es war noch dasselbe Märchenbuch aus dem ihr damals vorgelesen wurde. Ein dickes Buch mit einem dunkelroten Einband. Liebevoll strich sie über die vertrauten Seiten. Sie liebte das Buch und sie liebte das Märchen. Besonders die Stellen mit dem Spiegel machten ihr Spaß, hatte sie sich doch eine eigene Spiegelstimme angewöhnt. Die Kinder lachten, zuckten bei ihrer Bösen-Königin-Stimme.

Doch Schneewittchen hinter den sieben Bergen bei den sieben Zwergen ist noch viel schöner als ihr.

„Ich weiß, wo Schneewittchen wohnt“, unterbrach Eva. Vier gespannte Kinderaugen starrten sie erwartungsvoll an. „Na hinter den sieben Bergen! Das ist doch ganz klar, das ist unser Siebengebirge.“ Manuel nickte und überlegte kurz. „Aber wo genau ist jetzt hinter dem Siebengebirge?“ Das große Rätseln ging los, doch man wurde sich nicht einig. Vorne ist da, wo die böse Königin lebt und Schneewittchen und die sieben Zwerge leben hinter den Bergen. Wo ist das Schloss?

„Gibt es ein Schloss am Siebengebirge?“, fragte Marie und sah Josephine hoffnungsvoll an. „Die Uni ist ein Schloss“, fiel Manuel ein. „Die ist doch auf der falschen Rheinseite“, widersprach Eva. „Es heißt schließlich nur hinter den sieben Bergen und nicht am anderen Flussufer.“ Einstimmiges Nicken.

„Ich weiß, wie die sieben Berge heißen“, meldete sich jetzt auch Max zu Wort und begann sie gleich aufzuzählen. „Drachenfels, Löwenburg, Ölberg, Nonnenstromberg, Weilberberg, ….“ Doch Manuel unterbrach ihn: „Streng genommen besteht das Siebengebirge nicht nur aus sieben Bergen.“

Max wurde sauer: „Wenn du das so genau weißt, wie viele sind es denn? Und wie heißen sie?“

„Wenn es mehr als sieben Berge sind, dann wohnt Schneewittchen gar nicht bei uns in der Nähe“, überlegte Marie.

„Tut sie wohl!“, schrie Eva sie an.

Die Streiterei zwischen den Kindern entbrannte, bis keiner mehr wusste, worum es ging, aber jeder Recht haben wollte.

Josephine gab ihnen einen Moment Zeit, wartete ab, ob sie sich von alleine wieder einkriegen würden. Doch das taten sie nicht, also ging sie doch dazwischen. „Ist es denn wirklich wichtig, wo genau Schneewittchen gelebt hat?“, fragte sie mit kräftiger, aber freundlicher Stimme. Die Kinder hielten in ihrem Streit inne, starrten sie an und antworteten einstimmig: „Ja, natürlich.“

„Schön, dass ihr euch einig seid. Dann setzt euch mal wieder gemütlich hin, dann erzähle ich euch mal etwas dazu.“

Zu ihrem Erstaunen, setzten die Kinder sich wirklich wieder hin und sie begann zu erzählen:

„Das Märchen von Schneewittchen und auch viele andere, die ihr vielleicht schon kennt, sind sehr alt. Viel älter als die Disneyfilme, die für euch auch schon alt erscheinen mögen. Habt ihr schon mal von den Brüdern Grimm gehört?“ Manuel und Eva nickten. „Die Brüder Grimm haben sich die Märchen nicht ausgedacht. Sie sind vor ungefähr 200 Jahren durch Deutschland gezogen und haben die Märchen gesammelt, die sich die Leute erzählt haben. Doch die Märchen selbst sind noch viel älter. Die Menschen haben sie sich erzählt, ohne Märchenbuch, denn die Brüder Grimm mussten sie ja erst aufschreiben.“

Josephine blickte in staunende Gesichter. 200 Jahre klang in den Kinderohren unglaublich lange her. Geschichten einsammeln und aufschreiben war eine ungewöhnliche Aufgabe für die kleinen Zuhörer, die mit der Selbstverständlichkeit des allwissenden Internets aufwuchsen.

„Die Märchen selbst hatten vielleicht einen wahren Kern. Vielleicht gab es wirklich ein Schneewittchen und eine böse Stiefmutter, vielleicht sogar den Prinzen. Doch ganz bestimmt hat sich die Geschichte nicht genauso ereignet, wie sie hier in unserem Buch steht. In diesem Buch steht sie nicht einmal so, wie sie die Brüder Grimm aufgeschrieben haben.“

„Aber man soll doch nicht lügen“, empörte sich Max.

Josephine schmunzelte. „Da hast du Recht. Die Menschen haben auch nicht gelogen, doch wenn man eine Geschichte immer weiter erzählt, verändert sie sich von ganz alleine. Jemand hat etwas nicht richtig verstanden, oder etwas vergessen. Jemand möchte sie besonders spannend erzählen.“

„Wie bei Stille Post“, flüsterte Ben, der sich bisher aus der Diskussion heraus gehalten hatte. „Genau, wie bei dem Spiel“, lobte Josephine ihn. „Und bei dem Spiel wird nur ein einziges Wort oder ein Satz weiter gegeben, keine ganze Geschichte. Außerdem sagt ihr bei der Stillen Post das Gesagte sofort weiter und nicht erst Tage oder Wochen später.“

Die Kinder schwiegen eine Weile. Dann fragte Josephine, ob sie ihnen das Märchen weiter vorlesen solle? Ja, das sollte sie und alle lauschten bis zum Schluss ohne sie zu unterbrechen.

Später gingen sie gemeinsam in die Gruppe zurück. Eva umarmte Josephine noch und bedankte sich für die tolle Geschichte. Auch die anderen schenkten ihr noch ein Lächeln, bevor sie sich im Gruppenraum verteilten, um zu spielen oder zu basteln. Auch Daniela war Josephine sehr dankbar, bot ihr eine Tasse Kaffee an und sie besprachen noch kurz Josephines Idee, regelmäßig zu kommen. Daniela versprach es in der Teambesprechung am nächsten Tag anzusprechen und sich dann bei Josephine zu melden.

 

Zwei Tage später kam der Anruf. Das Team hatte zugestimmt und Daniela hatte noch eine Überraschung für sie. Der kleine Manuel hatte seiner Mutter, der Vorsitzenden des Fördervereins, mit einer solchen Begeisterung von der Märchenstunde erzählt, dass diese angeboten hatte, Josephine eine kleine Aufwandsentschädigung zu bezahlen, wenn sie regelmäßig mit den Kindern eine Märchenstunde abhalten würde. Sie war begeistert gewesen, als Daniela ihr berichten konnte, dass genau das Josephines Plan für die nächsten Monate war. Josephine konnte ihr Glück nicht fassen, war aber noch nicht bereit ihren Eltern von diesen Neuigkeiten zu berichten. Eine Märchenstunde pro Woche zählte wahrscheinlich nicht als Lösung des großen Zukunftsproblems, aber es war ein Anfang.

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