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Ein warmes Gefühl breitete sich an Josephines Brust aus. Die Drachenschuppe wurde warm. Es wurde Zeit, Abschied zu nehmen. Johanna bemerkte, wie Josephine danach griff und nickte verstehend.
„Wir sehen uns wieder. Jetzt kann ich dich leichter besuchen. Genieße den Tag mit deinen Freunden. Nimm diese Phiole mit und gebe deiner Freundin Angi nur einen Tropfen davon in ein Getränk. Sie wird sich dann besser fühlen. Den Rest verwahre gut auf, du wirst wissen, wann du es brauchen kannst.“
Josephine musste grinsen. Wie praktisch es doch war eine magische Drachenschwester in der Anderswelt zu haben. Wie Angi wohl reagieren würde, wenn sich ihr Kater in Luft auflöste oder hatte der Zaubertrank eine andere Wirkung?
„Habt einen schönen Tag“, sagte Johanna noch zum Abschied, bevor sie sich verwandelte und Josephine zurück an den Fuße des Berges brachte.
Josephine traute ihren Augen nicht, als sie den anderen zu den Eseln folgte. Da stand Sarah in ihrem Glitzertop, mit Minirock und den eleganten Schuhen und streichelte einen Esel. Schnell machte sie ein Foto mit dem Handy, das musste sie unbedingt Carla, Bastis Schwester zeigen, ohne Beweise würde sie das nie glauben.
„Na, seid ihr bereit?“, fragte Josephine, Angi einen Arm über die Schulter legend.
„Ok, machen wir uns an den Aufstieg“, bestätigte Angi. Es kam allerdings nicht ganz überzeugend rüber. Sie wirkte nicht besonders fit. Sarah grummelte vor sich hin, Sven strahlte und freute sich. „Gut, lasst uns gehen“, sagte Basti und nickte Sarah aufmunternd zu.
Josephine nahm ihren Arm von Angis Schulter und zog ihr dabei unauffällig die Trinkflasche aus der Seitentasche des Rucksackes. Angi hakte Sarah unter und setze sich in Bewegung. „Wir zwei schaffen das“, entschied sie. Sarah wirkte nicht überzeugt, ließ sich aber ein Stück mitziehen, bevor sie sich wieder von Angi löste.
Schnell fügte Josephine einen Tropfen aus der Phiole in Angis Flasche. Es war Limonade, typisch Angi. Ohne ausreichend Zucker funktionierte ihre Freundin einfach nicht. Garantiert befand sich auch Schokolade in ihrem Rucksack, da wäre Josephine jede Wette eingegangen. Der Rückweg der Flasche gelang nicht so unauffällig. „Du und Limo? Kannst mir die Flasche direkt geben.“ Angi trank einen kräftigen Schluck und reichte Josephine die Flasche zurück. „Jetzt darfst du sie gerne wieder in den Rucksack stecken.“
Wenige Minuten später beschleunigte Angi ihre Schritte und begann fröhlich zu singen. „Hey, warum rennst du auf einmal so?“, beschwerte sich Sarah. Tapfer stöckelte sie den steilen Weg hinauf, immerhin trug sie nicht die High-Heels vom Vorabend, aber auch ein breiter Absatz von ca. sechs Zentimeter Höhe war definitiv nicht das geeignete Schuhwerk für ein Spaziergang im Siebengebirge.
„Dir scheint es besser zu gehen“, freute sich Basti. „Klar, mir geht es prima“, verkündete Angi fröhlich. „Euch etwa nicht?“
„Alles bestens“, antwortete Basti. „Ich hatte nur den Eindruck, dass du noch ein wenig mitgenommen von gestern bist.“
„Gestern? Was war gestern? Heute scheint die Sonne und wir besteigen den Drachenfels.“
„Du hast Recht Angi. Heute ist ein schöner Tag. Komm, Sarah. Gleich erreichen wir Schloss Drachenburg.“
„Können wir das Schloss besichtigen“, fragte Sarah schon beinahe fröhlich.
„Ja, man kann das Schloss besichtigen“, erklärte Sven. „Machen wir aber nicht“, fiel Angi ihm schnell ins Wort, bevor die beiden einen anderen Plan entwickelten. „Wir steigen erst einmal hinauf bis zur Ruine und genießen die schöne Aussicht.“
„Vom Schloss aus hat man doch bestimmt auch eine tolle Aussicht, oder nicht?“ Mit klimpernden Augen setze Sarah ihre Hoffnungen in Sven. Doch damit hatte sie bei ihm schlechte Karten. „Die Aussicht von oben wird dir gefallen“, widersprach er ihr. Erzählte aber bereitwillig vom Schloss und von verschiedenen Veranstaltungen, die er er dort bereits besucht hatte.
Josephine hakte sich währenddessen bei Angi und Basti ein und freute sich ihre besten Freunde bei sich zu haben.
„Wie geht es denn deiner Schwester“, erkundigte sich Angi bei Basti. „Sie scheint auf dem Weg der Besserung zu sein. Ich hoffe, dass sie spätestens übermorgen wieder selbst für ihren Gast da sein kann. Noch länger halte ich das echt nicht mehr aus“, seufzte Basti.
„Och, gestern schien es dir sehr gefallen zu haben, so angehimmelt zu werden“, widersprach Josephine. Irritiert blieb Basti stehen und sah sie zweifelnd an. Doch dann fingen beide an zu lachen. Sie kannten einander zu gut. In diesem Moment wurde Josephine auch klar, wie albern ihre Gefühle gestern gewesen waren. War sie tatsächlich eifersüchtig gewesen? Weil Sarah-Barbie mit ihrem besten Freund geflirtet hatte? Sie hätte es besser wissen müssen und ihn retten sollen. Na, wenigstens konnte sie das heute. Sven kümmerte sich um Barbie und sie alle genossen das schöne Wetter. Sie warf einen Blick zurück zu Sven. Er sah gar nicht glücklich aus.
Sie erreichten Schloss Drachenburg. Sarah blickte durch den Zaun, es schien ihr tatsächlich ein wenig zu gefallen, auch wenn sie es nicht zugab. „Müssen wir wirklich bis ganz nach oben?“, versuchte sie noch mal zu diskutieren.
„Ja“, bekam sie eine einstimmige Antwort. Josephine und Angi nahmen sie in die Mitte. Die Jungs folgten den Mädels erleichtert, sich nicht um Sarah kümmern zu müssen. Das eine einzelne Person so anstrengend sein konnte. Sarah freute sich über die Mädels-Runde und begann gleich großzügig mit ihren Beauty-Tipps. Einige waren tatsächlich nicht schlecht, dachte Josephine, wenn sie nur nicht so sehr eben Sarah wäre. Irgendwie passten sie einfach nicht zusammen. nach einer Weile hörte sie nicht mehr richtig zu und versuchte mitzubekommen, was die Jungs besprachen. Ihr Name fiel im Gespräch, aber worum es ging konnte sie nicht verstehen.
Endlich erreichten sie die Aussichtsplattform. Hier musste auch Sarah zugeben, dass das Panorama wunderbar war. Erst der Blick über die grünen Berge, dann über Bad Honnef und schließlich der traumhafte Blick über den Rhein. Sarah strahlte und Angi machte schnell ein Mädels-Selfie. „Schicke ich dir gerne zur Erinnerung, wenn du magst.“ Ja, Sarah wollte das Bild. Holte selbst ihr Handy aus der Tasche und machte Bilder. Sie lief voraus zum Denkmal und fragte: „Ist das dort hinten Bonn?“ Angi stimmte ihr zu und erklärte die Aussicht.
Josephine überließ den beiden das Gespräch und sah sich um. Auf der Aussichtsplattform gab es das Ausflugslokal mit der großen Terrasse. Einige Familien mit kleinen Kindern waren dort, ebenso viele Wanderer verschiedenen Alters. Ein bunt gemischter Menschentrubel lief kreuz und quer durcheinander, saß an den Tischen oder stand an der Mauer, um die Aussicht zu genießen. Sie ging ein paar Schritte und auf einmal wusste sie ganz genau, dass es die richtige Stelle war. Auch wenn der Boden betoniert und mit Platten belegt war. Hier hatte sie vorhin bereits gestanden. Hier hatten sie das Ritual durchgeführt. Sanft strich sie über den unsichtbaren Ring an ihrem Finger. Die Luft vor ihr flimmerte und Johanna erschien. Sie legte einen Finger an die Lippen und zwinkerte ihr zu. Dann war sie auch schon wieder verschwunden. Doch sie war hier. Noch einmal strich Josephine über den Ring, wieder flimmerte die Luft. Dann verstand sie.
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