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letztes Kapitel

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Der liegende Baumstamm auf dem Josephine saß war bequem. Sie trank erneut einen Schluck des süßen Elfenweines und lauschte Johannas Geschichte.

„Einst waren unsere Welten eng verbunden. Für uns war es beinahe so, als wären sie eins. Nur ihr Menschen kamt selten zu uns herüber. Manchmal jedoch kam der eine oder andere zu Besuch, die meisten blieben, einige kehrten zurück. Sie erzählten Geschichten, die ihnen niemand glaubte. Doch die Geschichten wurden weiter erzählt. Einige von ihnen kennst du sicher, sonst hättest du beim Elfenwein nicht erst gezögert.“ Josephine nickte, denn genau das war ihr durch den Kopf gegangen, Warnungen aus Geschichten, aus Märchen und Legenden.

„Wir kamen zu euch, besuchten euch, beschenkten euch oder spielten auch so manchen Streich. Ihr beschenktet uns auf eure Weise, denn ihr erzähltet unsere Geschichte. Eure Geschichten sind unser Lebenselexir, die Verbindung zwischen den Welten. Doch dann änderte sich alles. Die Geschichten wurden nicht mehr erzählt, sie wurden auf Papier gebannt. Sie waren nicht mehr lebendig, änderten sich nicht mehr. Die Verbindung zwischen den Welten wurde schwächer.

Manche von uns blieben in euer Welt, süchtig nach der Nähe zu euren Geschichten. Nur noch wenige waren in der Lage zwischen den Welten zu wandeln. Nur die stärksten von uns, vermögen es noch heute.“

Fragend sah Josephine in Johannas goldgelbe Augen. Sie nickte bestätigend, dass sie selbst zu den stärksten Wesen zählte. Zu gerne hätte Josephine gewusst, warum sie einander so ähnlich sahen, doch sie war noch nicht bereit für diese Antwort. Es war zu früh für diese Frage.

Johanna lächelte ihr aufmunternd zu. „Ich bin froh, dich gefunden zu haben Schwester und ich verspreche dir, dass du es verstehen wirst. Jetzt bitte ich dich, mir zu vertrauen und dich auf das Ritual einzulassen. Es verstärkt unsere natürliche Verbindung und erleichtert mir den Übergang in deine Welt. Für dich war es nicht leicht zu mir zu kommen. Bleibst du umgeben von anderen Menschen ist es sicherer für dich. Doch werden deine Freunde nicht regelmäßig mit dir Ausflüge zum Drachenfels unternehmen wollen, damit wir uns sehen können.“

Den Gedanken an die Bedrohung durch den Fuchsteufel, der hinter ihrer Drachenschuppe her war, verschob sie schnell wieder. So langsam wurde aber auch deutlich, wie wertvoll dieses Artefakt für ihn war. Die Vorstellung regelmäßig ihre Freunde darum zu bitten, mit ihr zum Drachenfels zu fahren, amüsierte sie. Angi und ihre Liebe zu den Fischen kam ihr in den Sinn. Gab es eigentlich Dauerkarten im Sealife? Basti war immer für Ausflüge zu begeistern, aber irgendwann würde er Fragen stellen, Fragen auf die sie ihm keine Antwort geben konnte. Und Sven? Es war schön, dass er heute mit dabei war.

Während Josephine ihren eigenen Gedanken nachging hatte Johanna einiges vorbereitet. Ein kleines Feuer brannte und auf dem Baumstumpf lagen mehrere Gegenstände bereit: Kräuter, eine Phiole mit einer Flüssigkeit, eine hübsche Tonschale und eine altmodisch wirkende Klinge. Beim Anblick der Klinge weiteten sich Josephines Augen.

„Das Ritual erfordert kein Blut“, beruhigte Johanna sie schnell. Erstaunlich, wie schnell sie auf Josephines Gedanken reagierte. „Kannst du meine Gedanken lesen?“, fragte sie vorsichtig. „Nein, nur die, die dir auf die Stirn geschrieben stehen. Du hast die Klinge so besorgt angeschaut. Meine Gabe ist es, besonders aufmerksam zu sein. Hinzu kommt unsere Verbindung, da reagiere ich besonders sensibel auf deine Signale. Ich hoffe, dass ist dir nicht unangenehm. Es ist im Grunde nichts anderes, als die Fähigkeit zur Empathie bei den Menschen.“

„Es ist ungewöhnlich, aber angenehm. Wir Menschen sind meistens zu sehr mit uns selbst beschäftigt, um kleine Signale der anderen wahrzunehmen“, überlegte Josephine.

„Mit der Klinge möchte ich dir eine Haarsträhne abschneiden. Wir können gerne eine tief liegende im Nackenbereich nehmen, dann wird es niemand bemerken. Wäre das in Ordnung für dich? Anschließend darfst du mir auch eine abschneiden.“

Eine Haarsträhne abtrennen war eine weitaus angenehmere Variante als ein Blutopfer für ein magisches Ritual zu erbringen. Erleichtert löste Josephine ihren Zopf, raffte das Deckhaar, drehte es ein und bot der Drachenschwester den Nacken dar. Sanft griff Johanna nach einer Strähne und schnitt sie mit der scharfen Klinge ab. Anschließend reichte sie Josephine die Klinge und drehte ihr den Rücken zu.

Schließlich teilte Johanna von beiden Strähnen einen Teil ab, verband diese zu einem Strang, so dass sie schließlich drei rote Stränge zur Verfügung hatte, einen aus dem Haar von Josephine, einen aus ihrem eigenen und einen gemischten. Sie waren nicht voneinander zu unterscheiden. Rasch flocht sie einen dünnen Zopf daraus und legte das Haar in die Schale. Sie gab Kräuter hinzu und goss ein wenig Flüssigkeit darüber.

„Bist du bereit“, fragte sie Josephine und sah ihr dabei tief in die Augen. Diese wusste noch immer nicht, was geschehen würde, aber sie vertraute ihrer Schwester und nickte.

„Gut, dann nimm meine Hände, wenn ich die Schale in das Feuer gestellt habe. Schließe deine Auge, öffne deine Seele und singe im Geiste mit mir den Ritualgesang. Sorge dich nicht, wenn du die Worte nicht verstehst, sei einfach offen für den Zauber.“

Josephine war bereit. Sie hockten sich auf den Boden, das Feuer in der Mitte. Ihre Arme bildeten einen Kreis um die Schale in den Flammen. Noch einmal blickten sie einander tief in die Augen, schlossen sie beide und Johanna begann zu singen. Noch nie hatte Josephine sich einem anderen Menschen so nahe gefühlt wie in diesem Moment. Sie spürte Johanna, konnte aber nicht bestimmen, wo sie selbst endete und Johanna begann. Sie waren eins. Sang wirklich nur Johanna, oder sang sie mit?

Der Gesang endete. Ganz sanft löste Johanna die Verbindung. Es fiel Josephine schwer los zu lassen. Sie wollte nicht, wollte, dass es hielt.

„Es ist vollbracht“, vernahm sie Johannas Stimme. Doch sie sprach nicht laut, sie sprach in ihren Gedanken. Vorsichtig blinzelte Josephine. Das Feuer war erloschen. Die Schale stand in der Asche. Darin lagen zwei Ringe, rote Ringe aus ihrer beider Haar. Johanna griff nach ihnen, nahm sie aus der Schale. Einen streifte sie Josephine über den Ringfinger der rechten Hand. Er fühlte sich gar nicht heiß an, obwohl er eben noch in einer Schale im Feuer gelegen hatte. Den anderen steckte sich Johanna selbst an den Finger. Nach einer Phiole greifend sagte sie: „Deinen werden wir unsichtbar machen, damit du nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf dich ziehst. Für deine Kette reicht die Magie des Elexirs nicht, aber du kannst sie verborgen tragen und für den Unwissenden ist sie einfach ein hübsches Schmuckstück.

Josephine nickte und starrte auf ihre Hand. Der Ring war noch zu sehen. „Für dich bleibt er sichtbar. Du kannst es aber im Spiegel prüfen, für andere ist er verschwunden.“

Blick vom Drachenfels auf das Siebengebirge

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