(c) Stephanie Katharina Braun
„Gib her! Ich hatte das zuerst!“, kreischte die vierjährige Nina.
„Nein, ich brauche das!“, fauchte Junis wütend zurück.
Beide hielten ein Ende des letzten roten Tonpapierbogens fest umklammert. Beide brauchten genau diese Farbe zum verschönern ihrer Martinslaterne.
„Nun lass schon los!“
„Nein du!“
Das Papier riss, die Kinder fielen rückwärts und –
landeten auf dem Kopfsteinpflaster.
Nina und Junis sprangen gleichzeitig auf, sahen sich um, schauten sich verwirrt an.
„Wo sind wir?“, fragte Nina. Dies war eindeutig nicht mehr der Kindergarten. Sie zitterte, es war fürchterlich kalt hier. Schneeflocken wirbelten um sie herum.
Junis riss sie zur Seite. Ein Reiter hätte Nina beinahe erwischt.
Staunend blickten die Kinder ihm nach. Er ritt auf einem dunklen Pferd, trug einen langen wallenden Mantel und einen goldenen Helm an dessen Spitze eine Art roter Pinsel hoch stand.
„Das war ein Römer!“, zischte Junis. Er kannte sich da aus, hatte er doch zu Hause ein Bilderbuch über Römer..
„Römer? Sind wir in Rom? Aber wie kommen wir denn hierher?“ Nina war noch immer ganz durcheinander.
„Ist doch egal, komm mit. Ist das aufregend!“ Er zog Nina mit sich durch die engen Gassen. Ihn begann das überraschende Abenteuer zu begeistern. Auch Nina vergaß ihren Schrecken und schaute sich neugierig um.
Plötzlich zupfte Nina Junis am Ärmel. „Schau mal, da drüben“, flüsterte sie und deutete auf einen Mann, der vor einem Tor hockte, das zur Stadt hinaus führte. Er war in ein großes Stück roten Stoffs gewickelt. So schmutzig der Mann auch sonst war, der Stoff war seltsam sauber und wirkte edel.
„Ist das…?“
Nina nickte. „Das muss er sein, Junis! Wir haben eine Zeitreise gemacht!“
„Hey, ihr beiden da. Kommt doch mal her!“
Ganz langsam näherten sich die Kinder dem armen Mann. Sie sollten nicht mit Fremden reden, aber sie mussten doch herausfinden, wo sie hier waren und warum.
„Hallo, ähm, bist du der arme Bettler. Ich meine, der aus der Martinsgeschichte?“, stammelte Junis. Nina stieß ihn an. Das war doch sicher furchtbar unhöflich.
Doch zu ihrer Überraschung nickte der Mann. „Martin. Ja, ein guter Mann. Er schenkte mir seinen halben Mantel. Seht euch um, die vielen Menschen. Seht die feinen Damen dort drüben, warm verhüllt. Die Offiziere, alle eilen an mir vorbei. Ihnen würde es nicht schaden, mir etwas zu geben. Wisst ihr wer Martin ist? Ein einfacher Soldat ist er, ein Junge, noch keine 18 Jahre zählt er. Vielleicht bekommt er sogar Ärger in seiner Kaserne, dafür, dass er mit einem halben Mantel zurückkehrt. Doch er hat mit mir geteilt. Wisst ihr warum?“
Junis nickte eifrig. „Er ist ein Heiliger.“
Auch Nina wollte nun zeigen, dass sie die Geschichte kannte. „Er ist ein guter Mann.“
Der Bettler lachte. „Ihr habt Recht. Martin ist ein guter Mann. Aber heilig? Er hat selbst nicht viel zum Leben, doch er braucht auch nicht viel. Ich saß hier, nackt und halb erfroren. Da erkannte er, dass es mir viel schlechter ging als ihm. So teilte er das wenige, was er hatte. Ihr hättet mal sehen sollen, wie die anderen ihn ausgelacht haben. Doch Martin ritt einfach davon mit seinem halben Mantel. Nicht mal meinen Dank wollte er annehmen. Ein wahrlich guter Mann. So, nun zu euch beiden. Ihr müsst hier verschwinden. Die Stadtpatrouille kommt hier bald vorbei. Ihr seid Fremde, euch werden sie Fragen stellen. Fragen, die ihr wohl nicht werdet beantworten können.“
Er lächelte sie freundlich an. Dann deutete er auf ein seltsam schimmerndes Tor hinter seinem Rücken. Ein viel kleineres, als das gewaltige Stadttor, eines, das eben ganz gewiss noch nicht dort gewesen war. „Rasch hier durch. Ihr werdet euren Weg schon finden. Habt keine Angst.“
Nina und Junis nahmen sich bei den Händen und sprangen ohne zu überlegen durch das offene Tor. Hinter sich hörten sie noch Hufgetrappel und dann strenge Stimmen in einer fremden Sprache. Sie waren der Patrouille entkommen.
Doch wo waren sie nun?
Die Häuser sahen anders aus, als zuvor, auch wenn sie noch immer über Kopfsteinpflaster liefen. Es war wärmer und kein Schnee fiel vom Himmel. Hatte das Tor sie in eine andere Zeit, an einen anderen Ort gebracht?
Neugierig schauten sie sich um. Überall waren Menschen, die offenbar alle guter Laune waren. Es schien, als stünde ein großes Fest bevor.
„Wir sollten uns lieber verstecken und erst einmal beobachten, was geschieht. Sicher ist es auch hier nicht gut, wenn uns jemand Fragen stellt.“
Nina nickte und flüsterte zurück: „Wir fallen sicher auf. Die Leute sehen alle so komisch aus. Schau mal dort drüben. Vielleicht können wir uns da verstecken.“
Junis folgte ihr. Es schien ein Gänsestall zu sein, den Nina entdeckt hatte. Sie schlüpften hinein und machten es sich im Heu bequem.
„Schon seltsam diese Reise, oder?“
Junis nickte. „Was meinst du, wie kommen wir wieder zurück?“
„Ich habe keine Ahnung. Wie sind wir hergekommen?“
Junis schüttelte ahnungslos den Kopf.
„Psst, seid still.“
Überrascht wendeten sich beide um. Sie waren nicht allein. Ein Mann versteckte sich hier ebenfalls. „Wer sind Sie?“ Nina war ausnahmsweise mehr neugierig als ängstlich.
„Ich heiße Martin, aber bitte seid leise. Sie sollen mich nicht finden!“
„Martin?“ Junis staunte. „Der Martin?“
„Ja, sie suchen mich. Aber ich will nicht Bischof werden.“
„Warum denn nicht? Das ist doch sicher toll.“
„Das denkt ihr, junges Fräulein. Aber ich lebe gerne in meinem Kloster. Doch die Menschen haben ihre eigene Meinung. Und nun seid ruhig. Wenn sie mich nicht finden, werden sie irgendwann alle heimkehren. Dann kann ich zurück zu meinem Kloster. Das geht aber nur wenn ihr mich nicht verratet…“
In diesem Moment flogen die Gänse aufgeregt durcheinander und begannen wie verrückt zu gackern. Die Kinder blickten Martin entschuldigend an, dabei konnten sie ja wirklich nichts dafür. Sie hörten sich nähernde Stimmen. Martin verdrehte hilflos die Augen. „Jetzt werden sie mich finden. Dann werde ich wohl Bischof werden.“
Junis versuchte ihn zu trösten: „Sie werden ein ganz besonderer Bischof sein. Sie sind ein guter Mann.“
Nina stieß ihn in die Seite und sah ihn mahnend an. Es war bestimmt nicht gut, wenn er zu viel verriet. Hinter Martin schimmerte helles Licht. „Ein Tor“, flüsterte Nina.
Junis erkannte den Bettler, der ihnen von der anderen Seite her zuwinkte.
Nina griff nach seiner Hand.
Sie beeilten sich. Jemand rief etwas in einer fremden Sprache. Sie hatten Martin gefunden.
Dann fielen die Kinder.
„Aua!“, schrie Nina.
Junis rieb sich den Kopf.
Sie lagen auf dem Kindergartenboden, jeder eine Hälfte des roten Tonpapierbogens in der Hand. Sie richteten sich auf, stießen dabei zusammen und blieben lachend sitzen.
„Komm!“ Junis reichte Nina die Hand.
Sie griff zu und stand auf. „Komm, wir basteln weiter.“
„Ja, lass uns zusammen von dem roten Bogen ausschneiden. Es reicht ja eigentlich für beide.“ „Stimmt,“ lachte Nina. „Wir haben ja auch schon zwei Teile.“
„Genau. So wie Sankt Martin seinen Mantel geteilt hat.“