Das Bild von Leonardo da Vinci als weit aus seiner Zeit herausragendes Genius könnte auf gravierenden Missverständnissen beruhen und eine Legende der Nachgeborenen sein.
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Vorwort, Seite 13
Eine starke These, die auf den folgenden Seiten mit zahlreichen Argumenten untermauert wird. Dabei würdigt Mathhias Eckholdt Leonardo da Vinci als kreativen Künstler, als neugierigen Menschen mit vielfältigen Interessen. Allerdings kratzt er stark an seinem Status als genialem Erfinder. Dabei geht es nicht nur darum, dass zahlreiche seiner Skizzen nicht funktionieren würden, sondern auch darum, dass es gar keine innovativen Erfindungen sind, die seiner Zeit voraus greifen, wie von vielen angenommen wird.
Kreative Neugier
Leonardo da Vinci scheint ein guter Beobachter zu sein, der die Welt verstehen möchte. Wie funktioniert die Natur? Wasser. Luft. Leben. Kraft. Seine Stärke ist die Denkweise in Analogien.
Wie der Menschenkörper stellt sich auch der Erdenkörper für Leonardo als Gestalt dar. In dieser Art des Denkens in Analogien steht das Ganze vor den Teilen. Aus der Beobachtung wird eine Schau, in der von Details abstrahiert wird, um das Gesamte in den Blick zu bekommen und Strukturen ebenso wie Funktionszusammenhänge zu erkennen.
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Seite 32
Leonardos Ideen werden von Matthias Eckholdt in den aktuellen wissenschaftlichen Kontext eingeordnet, so lernen wir nebenbei nicht nur seine Denkweise kennen, auch einiges über die Dinge, die er beobachtet hat. Er lag in vielen richtig, wie zum Beispiel, dass die Berge nicht von der biblischen Sintflut erfasst wurden und dort deswegen fossile Muscheln zu finden sind. Stattdessen war dies einst der Meeresgrund. Nicht wissen oder ahnen konnte er, dass die Berge erst entstanden.
Kritik am Erfindergenie
Zahlreiche Skizzen zu verschiedenen Maschinen hat Leonardo angefertigt. Doch würden diese auch funktionieren? Es gibt Notizen, aber keine Modelle in seinem Nachlass. Die Notizen beziehen sich aber nicht unbedingt darauf, wie die Maschinen gebaut werden sollen oder wie sie funktionieren. Neben seinem Schaufelradboot finden sich beispielsweise lateinische Vokabeln, „die Leonardo besonders in seiner ersten Mailänder Zeit paukt“.
Zu der Erfindung der Kanalbaumaschine äußert sich Matthias Eckholdt besonders kritisch:
Bei genauerem Hinsehen handelt es sich auch gar nicht um eine Kanalbaumaschine. Eine solche würde die Bezeichnung als Maschine erst verdienen, wenn sie in der Lage wäre, den Abraum auszuheben und ihn dann aus dem Kanal herauszubefördern, so wie es etwa ein Bagger tut.
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Seite 61
Schritt für Schritt räumt der Autor mit dem Mythos auf Leonardo habe Schaufelradboote oder gar das U-Boot erfunden.
Sein Schaufelradboot ist streng genommen nicht einmal eins, da es nur zwei Schaufeln hat und somit „lediglich von senkrecht montierten Paddeln angetrieben wird“. Der gezeichnete Antrieb würde nicht funktionieren, dabei sind Schaufelräder zu Leonardos Zeit bereits 1300 Jahre bekannt.
Das Schaufelradboot ist nicht mehr als eine hingeworfene Skizze eines hellwachen Geistes und vielseitig interessierten genialen Malers.
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Seite 78
Lesevergnügen
Der erste Teil hatte großen Spaß gemacht zu lesen, danach weniger. Möglicherweise liegt es daran, dass dieser auch der spektakuläre war. Danach war mir klar, dass Leonardo nicht dass Genie ist für das er gefeiert wird. Ein genialer Künstler, ja, ein genialer Erfinder, nein.
Vergleicht man Leonardos kühne Ideen zum Flug oder seine eigenwilligen Theorien über die Natur des Wassers mit seinen Notizen zum Krieg, so fällt auf, wie wenig originell sie sind. Nur ein Mal lässt er seiner spekulativen Ader freien Lauf, wenn er sie die Folgen eines Schusses aus einer Bombarde ausmalt, der auf einen kleinen von mauern umgebenen Hof abgefeuert wird. Aus der Dramatik seiner Schilderung spricht das Talent des Malers, der in seinen Bildern bewegende Geschichten erzählt.
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Seite 186
Ich habe mir zahlreiche Textstellen notiert und musste mich bremsen, euch nicht zu viele in diesen Blogbreitag zu packen. Ich will euch die Lesefreude nicht verderben, denn abgesehen vom spannenden Thema, ist das Buch auch durchaus ansprechend und unterhaltsam geschrieben.
Zum Abschluss noch ein würdigendes Zitat:
Es ist zwar gänzlich verfehlt, Leonardo als Erfindergenie zu bezeichnen, trotzdem aber erschließt er neue Räume des Wissens. Insofern hätte er nicht nur seine, Trommelautomaten den Takt vorgeben können, sondern auch seinen Nachgeborenen. Durch seine unstillbare Neugier, mit der er alles, was sich seinen Augen zeigt, hartnäckig befragt und in immer neuen Anläufen bedenkt und skizziert, wagt er den Schritt in eine neue Form der Empire. Auf der Grundlage der Erfahrung versucht er die Theoriebildung …
Leonardos Erbe, Matthias Eckholdt, Seite 282
Das Buch wurde mir über das Bloggerportal von Randomhouse zur Verfügung gestellt. Link zur Verlagsseite mit Leseprobe
Leonardos Erbe
Matthias Eckholdt
Penguin Verlag, 2019
ISBN: 978-3-328-10328-8
Hallo Stephanie,
ich muss gestehen, dass ich zu wenig von Leonardo da Vinci weiß, um mir da jetzt eine richtige Meinung bilden zu können. Aber ich kann mir gut vorstellen, dass aus heutiger Sicht vieles nicht besonders zu sein scheint.
Menschen, die der Zeit voraus sind, werden lange gefeiert, bis man irgendwann merkt, so ganz richtig ist das alles nicht.
Und ja, als Künstler war er brillant!
Liebe Grüße
Petrissa
Hallo Patrissa,
ich bin auch kein Leonardo Experte, aber die Argumente im Buch sind schon sehr schlüssig und spannend zu lesen, wie es zu der Meinung kam, er sei ein genialer Erfinder und warum er es eben eigentlich nicht ist.
Liebe Grüße
Stephanie
Liebe Stephanie,
die Prämisse des Buches hört sich sehr interessant an. Auch ich habe Leonardo da Vinci als genialen Kopf abgespeichert. Wie wissenschaftlich ist das Buch denn geschrieben? Kannst du alle Thesen vertreten, die der Autor über da Vinci äußert?
Und warum fandest du die zweite Hälfte nicht mehr so interessant zum Lesen?
Liebe Grüße,
Nico
Hallo Nico,
im Grunde ist es diese eine These, die über dem Buch steht. Es werden verschiedene thematische Bereiche abgedeckt. Das spielt für mich eine Rolle dabei, dass es im zweiten Teil weniger spannend wurde. Ich war bereits von der Antwort auf die These überzeugt.
Es ist nicht wissenschaftlich geschrieben vom Schreibstil her, aber es wird schlüssig argumentiert und der Autor zieht Quellen heran für seine Aussagen.
Ein genialer Kopf ist er nach wie vor.#
Liebe Grüße
Stephanie