Diese Geschichte entstand im Rahmen eines gemeinsam Projektes im Einhornteam Die als Zitate markierten Textstellen stammen von den Autoren der U-Files Anthologie. Sie wurden uns von den Autoren zur Verfügung gestellt und unverändert eingebaut.
(c) Stephanie Katharina Braun
Er setzte den Krug an die Lippen und trank ihn mit einem Zug zur Hälfte aus. „Hast du Honig?“ Das Gesicht der Alten verfinsterte sich. „Ihr kommt, um mich zu töten, trinkt vorher meine Milch und verlangt noch Honig dazu?“ „So wie ich das sehe, hast du einen Auftrag für mich. Und der lautet: Findet den wahren Grund für das Verschwinden der Kinder. Bezahlen kannst du mich nicht, das sehe ich ebenfalls.“
Dabei nahm er die Kapuze ab und gab sich endlich zu erkennen. Die Alte seufzte und begriff, dass sie sich getäuscht hatte. Sie blickte nicht ihrem Mörder ins Gesicht, stattdessen jemandem, den sie Jahre nicht mehr gesehen hatte.Doch so, wie der düstere Herr vor einer Weile in ihr Haus gekommen und seine unglaublichen Kräfte entfesselt hatte, hatte sie nur das Schlimmste annehmen können. Er hatte sie vertrieben, die Männer, die täglich kamen und sie mit Fragen löcherten. Gardisten schimpften sie sich, dieses dreckige Pack in den albernen Gewändern. Sie wollten die Jungen doch nur mustern, ob sie endlich groß und kräftig genug waren, um der Garde beizutreten. Und die Mädchen? Oh wie sehr hasste sie es, wenn sie die Mädchen musterten. Nie konnten sie ihre Finger bei sich behalten. Diejenigen, die kräftig und weniger hübsch waren, verschwanden in der Schlossküche, nahm sie an. Was mit den anderen geschah, traute sie sich nicht aus zu malen.
Sie hatte ihren Hof und die Kinder, um die sie sich kümmerte. Es waren nicht ihre eigenen, schon lange nicht mehr. Sie kamen zu ihr, fanden bei ihr ein Heim. Wenn sie das Glück hatten der Garde zu entkommen, half sie ihnen ein Handwerk zu erlernen oder auf einem der anderen Höfe der Gegend unter zu kommen. Viele Herrschaften wussten, dass sie die Kinder gut erzog und ihnen viel beibrachte. Die Mädchen wurden ihr liebend gern abgenommen, als Ammen oder Haushälterinnen. Einigen von ihnen brachte sie auch die Grundlagen über die Heilkräuter bei, das machte sie besonders beliebt.
Doch jetzt war sie allein. Sieben Kinder hatten bis vor Kurzem noch bei ihr gelebt. Eines morgens waren sie einfach verschwunden. Die Gardisten beschuldigten sie, sie würde sie vor ihnen verstecken. Als wenn sie sich nicht genug Sorgen machen würde, kamen diese elenden Kerle jeden Tag und belästigten sie. Bis heute.
Heute war dieser Mann aufgetaucht. Dieser Mann, der dort auf der Bank saß und inzwischen völlig abwesend schien.
Ganz unrecht hatte die Alte nicht. Der Magier war erschöpft, ein wenig in Gedanken versunken, sammelte er seine Kräfte.
„Der Einsatz der Magie hatte noch etwas mehr an meinen Kräften gezehrt. Daher blieb ich weiter in dem muffigen Gebäude sitzen. Mit kindlicher Begeisterung beobachtete ich die kleinen Staubpartikel, die in dem kalten Sonnenstrahl, der durch ein Loch in der gegenüberliegenden Wand drang, tanzten. Sie reckten sich in die Höhe, sanken elegant wieder zu Boden, nur um erneut ihren Tanz zu beginnen. Hätte ich nicht etwas zu tun gehabt, ich wäre noch eine ganze Weile hier sitzen geblieben, aber ich wollte bald den Wald erreichen.
Es wurde Zeit, sich wieder auf die Gegenwart und die Aufgabe zu konzentrieren. Ich muss den Blick vom Staub lösen und mich der Alten wieder zuwenden.
„Wie sieht es aus? Habe ich den Auftrag?“
„Edler Herr“, stammelte die Alte, doch der Magier fiel ihr ins Wort. „Vergesst das mit dem Herrn, erst recht den edlen. Es geht um die Kinder. Berichtet mir, was ihr wisst und Ihr seid mich bald los.“
Die Alte begann zu erzählen …
Unterdessen entledigte sich ein junger Mann in einem Hinterhof seiner Kleider. Finn hatte eine Entscheidung getroffen, er war nicht länger bereit seiner Aufgabe nachzukommen. Am liebsten würde er die Gewänder verbrennen, doch das war zu gefährlich, er könnte entdeckt werden. Stattdessen begnügte er sich damit, die einfachen Beinkleider und das Hemd überzuziehen. Er hatte sie einem Farmer entwendet, wohl wissend, dass sie für ihn kostbar sein mussten. So hatte er ein paar Silberlinge hinterlassen, in der Hoffnung ihn so zu entschädigen. Einen unauffälligen Umhang mit Kapuze hatte er sich auf ähnlichem Wege besorgt. Er war bereit, mehr als das. Das Abenteuer seines Lebens konnte beginnen. Er würde sie finden, seine Geschwister. Den Blick der Alten hatte er kaum ertragen können, als er gestern mit im Haus war. Sie hatten ihm keine Wahl gelassen, so sehr er sich auch weigern wollte. Doch jetzt war es vorbei, endgültig. Er trat hinaus auf die Straße und machte sich auf den Weg, hinaus aus dem Dorf auf den Weg zum Waldrand.
Abgesehen von diversen Reisen in die drei Nachbarstädte, denen er in seiner Funktion als Leibgarde des Königs von Ludvijen beigewohnt hatte, war er nie weit von den Mauern seiner Heimatstadt weggekommen. Da wollte er sich ganz gewiss nicht auch noch in seiner spärlichen Freizeit mit deren Belangen oder gar seiner Arbeit beschäftigen. Viel lieber sah er zu, wie über ihm eine Gruppe Schwalben durch die Lüfte tanzte und sich die Farbe des Himmels in aller Seelenruhe verdunkelte. Der schwarze Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde durch sein Sichtfeld huschte, entging ihm dabei gänzlich. Die sich ihm kurz darauf vom Waldrand aus nähernden, bedächtigen Schritte bemerkte er jedoch sofort, richtete sich verwundert auf und fand sich einem Wesen gegenüber, dessen Besuch ihm ausgerechnet jetzt unwillkommener nicht sein konnte.
Ein Pferd stand vor ihm, weiß wie Schnee mit langer wehender Mähne und einem merkwürdigen Horn auf der Stirn. Auffälliger ging es nicht? Finn beschleunigte seinen Schritt und eilte auf den Wald zu, das Tier folgte ihm. Als er die erste Baumreihe hinter sich gelassen hatte, atmete er erleichtert auf und verlangsamte seine Schritte. Zwei Reihen weiter, erlaubte er sich über die Schulter zurück zu blicken. Das Pferd war stehen geblieben. Dort war ein zweiter Mann, einer der genau wie er einen Umhang trug. Er schien mit dem Pferd zu sprechen.
Vorsichtig schlich er sich im Schutz der Bäume näher, um sie verstehen zu können.
Der Mann schien ebenfalls nicht begeistert von dem seltsamen Pferd zu sein.
»Ist das dein Ernst?« Er deutete mit beiden Händen auf das Einhorn und starrte genervt gen Himmel. »Du schickst mir einen Gaul? Sind dir die verdammten Engel ausgegangen?« »Niemand schickt mich!« Das Tier näherte sich ihm und bewegte dabei die Lippen. »Ich bin wie Sie, edler Herr, nicht hier und nicht da.«
„Was ist denn heute nur los“, fluchte der Kapuzenmann. „Ich bin kein edler Herr, verdammt noch eins! Einfach Tom, ok.“
„Kein Problem“, sagte das Pferd. „Dann lass uns den jungen Mann hinterm Baum mal hervor holen, dann können wir endlich los. Ich heiße übrigens Neria.“
„Als wenn du ein Engel wärst“, murmelte Tom kopfschüttelnd, aber Neria trabte bereits auf den Baum zu, hinter dem Finn nervös stand.
„Kommt hervor edler Herr, wir haben das gleiche Ziel.“
Finn zögerte, aber was blieb ihm anderes übrig. Hatte er wirklich eine Chance gegen den düsteren Kerl und das sprechende Pferd? Er war ja ein ganz toller Held.
„So ist es gut“, freute sich Neria wiehernd und setzt sich in Bewegung. Sie blickt nicht zurück, erwartete, dass die Herren ihr folgen würden. Sie taten es auch, wenngleich sie weder edel noch Herren waren.
Eine Weile schwiegen sie, dann begann Tom das Gespräch mit dem Jungen: „Was treibt euch in den Wald junger Freund?“ „Finn ist mein Name, werter Herr“, stotterte der ehemalige Gardist. „Lass gut sein, nenn mich einfach Tom. Bin zwar älter als du, aber Förmlichkeiten sind mir zu wider. Erzähl mir deine Geschichte.“ Da war etwas in Toms Stimme, dass den Jungen ruhiger werden ließ, etwas, dass ihn dem Älteren bedingungsloses Vertrauen schenken ließ. So begann er zu erzählen, von seiner Kindheit auf einem Hof, die er meist eingesperrt im Stall verbracht hatte. Wie er fortgelaufen war und eine Familie gefunden hatte. Dort hatte ihn die Garde gefunden. Er wollte kein Gardist werden, wollte nicht kämpfen, wollte niemanden einsperren. Dennoch hatte er ein paar Jahre ein gutes Leben gehabt. Doch als er zu der Alten geschickt wurde, war es zu viel. Er musste die Kinder suchen, auch wenn er keine Ahnung hatte wie. Ein Traum hatte ihm den Weg zum Wald gewiesen, weiter hatte er noch nicht gewusst. Nun sei er auf das merkwürdige sprechende Pferd und Tom getroffen.
„Du befindest dich in bester Gesellschaft mein Junge. Reinen Herzens bist du aufgebrochen. Neria ist ein Einhorn, kein komisches Pferd und allein, dass du sie sehen darfst, spricht für dich. Meine Wenigkeit, bitte erschrick nicht, ist ebenfalls nicht von dieser Welt. Ich bin ein Magier.“
Eine Weile schwieg der Junge respektvoll, dann sprudelten die Fragen aus ihm heraus. Tom gefiel der Kerl und so begann er zu erzählen. Sie folgten dem Einhorn, das zielsicher durch den Wald trabte, ohne sich nach ihnen umzublicken. So ging es eine ganze Weile, ohne Rast und ohne Ermüdung.
Schließlich blieb Neria an einer Baumgruppe stehen, wieherte leise. Dann neigte sie ihren Kopf und berührte mit dem Horn einen Baumstumpf. Finn, der sie neugierig beobachtet hatte, schloss reflexartig die Augen, denn es wurde hell um sie herum. Der Wald war dicht geworden, das Licht fiel nur noch spärlich durch die Bäume, so dass er jetzt geblendet seine Augen schützen musste. Er spürte, wie Tom ihm die Hand auf die Schulter legte. „Es ist so weit. Hab keine Furcht junger Freund, wir betreten jetzt das Reich Juvneldi durch das Portal“.
Wie in Trance ließ Finn sich vom Tom durch das leuchtende Portal ziehen und war enttäuscht. Er drehte sich um, doch das Portal war bereits erloschen. Um ihn herum befanden sich Bäume, nichts als Bäume, ein sprechendes Einhorn und der seltsame Kerl. So langsam zweifelte er an seinem Verstand. Er befand sich etwa zwei Meter weiter vorne, aber ganz sicher nicht in einer anderen Welt. Das Ganze war einfach zu verrückt, aber so lange er keinen anderen Plan hatte, folgte er lieber den Verrückten, die scheinbar dasselbe Ziel hatten.
Es ging so schnell, dass er es gar nicht richtig mitbekam. Schon fand er sich auf dem Rücken des Einhorns wieder. Er wollte protestieren, doch Tom deutete ihm an, still zu sein. Dann verschwand er, löste sich einfach in Luft auf. Was noch schlimmer war, das Einhorn verschwand ebenfalls, war nicht mehr zu sehen. Finn blickte auf seine eigenen Beine hinunter. Er konnte sie spüren, ebenso den Körper des Einhorns auf dem er saß, aber da war nichts, absolut nichts zu sehen. Bevor er in Panik ausbrechen konnte, hörte er Schritte. Seltsame Wesen tauchten zwischen den Bäumen auf, kamen auf sie zu.
Er spürte, wie das Einhorn auswich und die Fremden knapp an ihnen vorbei eilten. Schweigend ging es weiter, bis sie plötzlich anhielten und wieder sichtbar wurden. Um sie herum erschien eine Waldhütte. Finn sprang vom Rücken des Einhorns und wollte gerade zu einer aufgeregten Rede ansetzen, doch Tom ließ ihn nicht.
„Wir hätten dich vorwarnen können junger Freund, aber ich hatte nicht so schnell mit Feinden gerechnet. Willkommen im sicheren Versteck der Magiergilde von Juvneldi, mein Sohn.“ Endlich nahm Tom seine Kapuze ab und Finn, der geglaubt hatte nichts könne ihn inzwischen noch überraschen, blickte in einen Spiegel, einen Spiegel mit Altersverzerrung. Eine Weile starrten die beiden Männer sich in die Augen, bis Tom auf Finn zutrat und ihn kurz aber bestimmt in die Arme nahm. „Ja, mein Sohn, das ist wörtlich gemeint. Uns bleibt nicht viel Zeit, daher die Kurzfassung. Den Traum von letzter Nacht habe ich dir gesandt, damit du mich findest. Ich musste dich als kleinen Jungen gehen lassen. Du bist an Prinzessin Regina gebunden, solltest sie begleiten und beschützen. Es geht dir schlechter, seit du sie verloren hast?“
„Prinzessin Regina, du meinst meine Schwester Rina?“
Tom nickte bestätigend. „Ihr stammt beide aus dieser Welt. Rina drohte Gefahr und wir brachten euch in Sicherheit bei meiner Tante. Leider hat die Garde euch getrennt und so konntest du sie nicht länger mit deiner Magie schützen.“
„Magie? Du meinst, ich bin ein Magier?“
„Natürlich, du bist mein Sohn. Deine Kräfte sind aber gebunden, da wir dich nicht ausbilden konnten. Du reagierst instinktiv auf den Schutz der Prinzessin. Vorsicht, das könnte jetzt ein wenig unangenehm werden.“
Tom legte Finn die Hände auf den Kopf. Es kribbelte, wurde warm, nein heiß, dann wurde ihm schwindelig. Es fühlte sich an als würde er gleich ohnmächtig, doch dann wurde er stärker, wacher, wacher als er es je zuvor gewesen war. Finn öffnete seine Augen und sah, wie er nie zuvor gesehen hatte. Da waren so viele Details in der Hütte und Neria erst. Wie konnte er nur schlecht über dieses unglaublich schöne Wesen gedacht haben.
„Noch sind nicht alle deine Kräfte freigegeben, die Verbindung zu Regina steht noch. Wir werden jetzt nochmal etwas ausprobieren. Hab keine Angst, es ist wichtig, dass du die Verbindung nicht löst.“
Finn nickte. Er erlaubte sich nicht nachzudenken, dafür war später Zeit. Seine Schwester, seine beste Freundin Rina war eine Prinzessin. Sie war in Gefahr und es war seine Schuld, er hatte sie im Stich gelassen. Nicht nachdenken! Er musste sich konzentrieren. Er musste tun, was Tom, sein Vater, ihm sagte. Neria, das Einhorn stand mit gesenktem Kopf vor ihm. Sanft streichelte er ihm über das weiche Fell, die Mähne fühlte sie so unglaublich seidig an. Langsam näherten sich seine Finger dem Horn, wurden magisch angezogen. Er umfasste es und spürte die Energie fließen. Sein Vater stand hinter ihm, hielt ihn an den Schulter. Es gab ihm Kraft, dass er da war, als die Bilder kamen.
„Rina“, flüsterte er und wollte nach ihr greifen. Doch er konnte seine Hand nicht bewegen. Sie hielt weiterhin das Horn. Er wusste, er durfte es nicht loslassen. Das Einhorn war irgendwie in einer anderen Dimension. Dort saß Rina, er wollte zu ihr, konnte es aber nicht.
„Halte das Bild“ erklang Toms Stimme in seinem Kopf. In seinem Kopf? Nicht ablenken lassen. er konzentrierte sich auf Rina. Sie war in einem Gebäude, der Boden war steinern. Sie saß auf dem Boden in ihrem Lieblingskleid, welches schmutzig und zerrissen war. Sie sah unversehrt aus, aber es tat ihm weh, sie dort hocken zu sehen. Konzentriert prägte er sich jedes Detail ein bis die Verbindung brach.
„Hast du es gesehen“, fragte Tom. „Ich weiß, wo sie ist“, erwiderte Neria zufrieden. „Wenn ihr bereit seid können wir aufbrechen. Am besten wieder unsichtbar. Wenn ihr beide auf meinen Rücken steigt sind wir vor Anbruch der Nacht dort und können sie befreien.
„Wie? Wo ist sie? Und was ist mit den anderen?“ Neria schüttelte den Kopf. „Junge, du stellst eindeutig zu viele Fragen und die falschen Fragen. Steig auf und verhalte dich leise. Mit mir kannst du unsichtbar sein, aber hören kann man dich trotzdem.“
Widerwillig nahm er hinter Tom Platz und schon setzte sich das Einhorn in Bewegung. „Sorge dich nicht, mein Sohn“, erklang die Stimme wieder in seinem Kopf. „Gemeinsam werden wir sie befreien, doch das eigentliche Abenteuer wird erst danach beginnen. Prinzessin Rina ist die Tochter des Königs von Ludvijen, der Welt in der du aufgewachsen bist. Die Könige der beiden Welten sind Zwillingsbrüder, sie beide wurden als Säuglinge verflucht. Ihre Seelen wurden in diesem Fluch aneinander gebunden und neu aufgeteilt. So ist der eine zum Gegenstück des anderen geworden, vereint unser König von Juvneldi alle guten Eigenschaften der Zwillinge, so sind es bei seinem Bruder die schlechten.“ Nur schwer konnte Finn ein Aufstöhnen unterdrücken. Er wusste, dass der König ein übles Subjekt war, aber dass es so schlimm, um den Mann stand, dem er die Treue hatten schwören und dienen müssen, traf ihn hart. „Es gibt eine Möglichkeit, diesen Fluch zu brechen, denn jede mächtige Magie hat seine Hintertür. Sollte einer von beiden Nachkommen zeugen, so sollte es diesen gelingen, die Welten wieder zu vereinen. Leider gibt es bei uns einige, die genau das verhindern wollen. Für viele ist es nämlich gar nicht so schlecht hier. In Ludvijen ist das Leben dagegen hart für das Volk. Es tut mir wirklich leid, dass ich euch dorthin geschickt habe. Nur dort wart ihr sicher, denn die Feinde der Widervereinigung leben nur hier, die Gilde des Widerstandes. Nicht-menschliche Wesen, die ihre Freiheit lieben, die der gütige König ihnen gewährt. In seiner unendlichen Liebe zu allen Geschöpfen sieht er jedoch nicht, was sich am Rande seines Königreiches ereignet, welches Leid, die Feinde der Widervereinigung dort verursachen. Ich möchte dich nicht unnötig ängstigen, du hast sie vorhin gesehen. Sie sind auf der Suche nach uns, um uns an der Aufgabe zu hindern.“
Ganz sicher war Finn sich nicht, ob er all das verstand. Rina war wichtig und er musste dabei helfen sie zu retten. Dies war für ihn unumstößlich und an diesem Gedanken hielt er sich fest, egal welche unglaublichen Wahrheiten ihm sonst noch offenbart würden.
Sie kamen an einer kleinen Burg an. Wenn das der Ort war, an dem Rina festgehalten wurde, würden sie sie niemals befreien können. „Bleib ruhig“, ermahnte Tom ihn. Neria trabte locker zum Tor und wartete. Nicht einmal lange mussten sie warten, als es sich öffnete. Finn hielt den Atem an und duckte sich hinter Toms Rücken. „Sie können dich nicht sehen.“ Natürlich wusste Finn das, aber das Bedürfnis sich vor denen zu verstecken war zu groß. Entspannt schlich Neria durch das Tor, einfach unsichtbar an den Feinden vorbei. „Sie sind furchteinflößend, auch gefährlich im Nahkampf, aber sie können keine Magie wirken. Jetzt brauchen wir dich Junge. Neria konnte dank deiner Bilder diesen Ort erkennen. Nur du kannst uns jetzt den Weg weisen, höre in dich hinein und spüre, wo Regina sich aufhält.“ Finn tat wie geheißen. Er suchte Rina in seinen Gedanken, sah sie als kleines Mädchen, dann als junge hübsche Frau. „Wir brauchen die Gegenwart“, ermahnte ihn sein Vater. Konnte er seine Gedanken lesen? „Falls du dich fragst, ob ich deine Gedanken lese, das kann ich leider nicht, nur Neria, wenn du mit ihr über das Horn in Verbindung stehst. Was ich allerdings kann, ist in deinem verliebten Gesicht lesen.“ Augenblicklich lief Finn feuerrot an. Verliebt? Sie sprachen hier von seiner Schwester. Streng genommen seiner Ziehschwester, denn sie waren nicht blutsverwandet. Eine vertraute Stimme drang aus einem offenen Fenster. „Cassie!“ „Still!“, ermahnte ihn die väterliche Stimme im Kopf. Da du noch nicht in Gedanken kommunizieren kannst, nimm meine Hand, drücke einmal für ja, zweimal für nein. Verstanden?“ Finn drückte einmal und kam sich ein wenig albern vor. „Wer ist diese Cassie? Eines der Kinder, die bei der Alten gelebt haben?“ Finn drückte einmal. Neria trabte zum Fenster und sie blickten in den Raum. Es war eine Küche. Neben Cassie waren zwei weitere Mädchen anwesend. „Gehören sie auch zu euch?“ Finn drückte einmal.
Tom war zufrieden, sie hatten bereits drei der verschwunden Kinder gefunden. Es fehlten noch Rina und die drei Jungen. Er sah sich suchend um, aber es blieb ihnen keine Wahl, der Zeitpunkt war günstig. „Finn, du musst sichtbar werden. Steig ab, aber spring direkt durchs Fenster. Es bleibt keine Zeit für ein Wiedersehen. Sprich mit Cassie, finde heraus, wo die Jungen sind. Dann ermahne sie, weiter zu arbeiten. Kehre so schnell du kannst zurück.“
Finn verlor keine Zeit und sprang. Bei der Garde hatte er seine Fähigkeiten verbessert, war wendig und schnell. Es dauerte nicht lange, da war er auch schon wieder zurück, stieg auf Nerias Rücken, diesmal vorne, um noch beim Aufsteigen ihr Horn zu berühren. Sie fanden die drei vermissten Jungen tatsächlich in den Ställen, wie Cassie es ihm gesagt hatte. Unter einem Vorwand sollten sie sich zu den Mädchen in die Küche gesellen und dort warten, während sie Rina suchten.
Inzwischen konnte Finn sie spüren, im Keller des Turmes. Dorthin führte eine Wendeltreppe, die für Neria unmöglich zu überwinden war. So blieb das Einhorn vor dem Küchenfenster zurück und legte einen Schutzzauber über die verschwundenen Kinder, die bald wieder verschwinden würden.
Im Kerker fanden sie die weinende Rina auf dem Boden. Für Toms Magie war es kein Problem die Schlösser zu knacken. Schnell war Finn bei ihr, nahm sie in seine Arme und spürte die tiefe Verbundenheit zwischen ihnen. Jetzt wusste er, was ihm gefehlt hatte, wer ihm gefehlt hatte. Er war wieder vollständig. Unter Tränen streichelte Rina sein Gesicht. „Mein Finn. Du bist gekommen um mich zu retten. Oh Finn, wie ich dich liebe.“
Jetzt mussten sie nur noch alle aus dieser Burg entkommen und gemeinsam die Welten retten.