Die letzten Monate hat mich ein geniales Buch begleitet: „Geniale Störungen“ von Steve Silbermann. Es ist teils spannend, teils unerträglich zu lesen gewesen. Der Titel bezieht sich auf das breite Autismussprektrum und ebenso vielfältig wie der Autismus selbst, ist auch seine Geschichte. Steve Silbermann erzählt zahlreiche Geschichten, in denen verschiedene Protagonisten aus fachlicher und betroffener Richtung beteiligt sind. Er berichtet von zahlreichen Eltern und Autist*innen, ihrem Engagement und ihren Erfahrungen.
Ein historischer Blick
Angefangen bei den Entdeckungen von Kanner und Asperger, die stets als unabhängig gelehrt werden, wobei es möglicherweise doch Hinweise gibt, dass Kanner von Apserger gewusst, ihn oder seine Erkenntnisse aber ignoriert hat. Zwei sehr unterschiedliche Beschreibungen und vor allem Haltungen zu einem Phänomen, welches letztendlich das Autismusspektrum beschreibt. Asperger erkannte in seinen Patienten bereits besondere Fähigkeiten, während Kanner den Kindern viele absprach und empfahl sie in Heimen unterzubringen.
Die ersten Behandlungsmethoden sind einfach gruselig zu lesen und doch war es hilfreich für mich, um die Geschichte einordnen zu können, denn auch heute liegt der Fokus der Psychotherapie meist auf der Behandlung von Autist*innen. Sie sollen lernen in einer Welt zurecht zu kommen, die auf ihre Bedürfnisse keine Rücksicht nimmt. So werden die Bedürfnisse zu Defiziten. Dabei sind viele als Eigenheiten beschriebene Eigenschaften Fähigkeiten, die auch als Stärken ausgelebt werden können, nicht nur, aber vielfach in der IT.
Überlegungen
Sind Neurotypische die besseren Menschen und sind sie wirklich in der Mehrheit? Wie sähe eine Welt aus, wenn wir Autist*innen in entscheidenden Positionen hätten?
Es ergeben sich für mich spannende Fragen aus der Lektüre und das Buch bestärkt mich in meiner Haltung, dass Autismus per se keine Störung, kein Problem ist, bloß weil diagnostische Manuale eben Störungen klassifiziert.
Steve Silbermann beschreibt den Perspektivwechsel:
Aus autistischer Sicht ist das „normale“ Hirn leicht ablenkbar, zwanghaft sozial und leidet unter mangelnder Aufmerksmakeit für Details und für Routine.
Geniale Störungen, Steve Silbermann, Seite 501
Sollte es unser Ziel sein, Ursachen und eine Heilung für Autismus zu finden oder Autisten beibringen in unserer Welt klar zu kommen?
Darauf fokussieren sich Forschung und Behandlung noch immer. Der Autismus soll erklärt werden, Ursachen gefunden, auch wenn inzwischen klar sein sollte, dass es nicht eine Ursache gibt, wird viel Forschungsenergie darin investiert, das Phänomen Autismusspektrum zu erklären. Die zweite Frage ist für Autist*innen noch gravierender, es bedeutet nämlich, dass sie sich anpassen sollen. Provokant gefragt: Wer ist wirklich atypisch?
Nein! Ich denke wir sollten der Welt beibringen, mit einer Vielfalt von Menschen klar zu kommen. Autisten sind nämlich keine Aliens, sondern Menschen, die sich manchmal wie Aliens unter Menschen fühlen. Das muss nicht sein. Es gibt keinen Prototypen eines Autisten, sie sind mindestens so vielfältig wie Nicht-Autisten.
Können wir Menschen in richtige und falsche einteilen? In Menschen mit Problemen und ohne?
Es gibt keine Menschen, die ohne Probleme in unserer Welt klar kommen! Wann wird es klinisch bedeutsam?
Ist es Autismus, den wir behandeln müssen oder nicht eher z.B. Depressionen, verursacht durch eine Welt, die so gestaltet ist, dass sie für Neuroatypische noch herausfordernder ist, als für Neurotypische.
Wo ist die Grenze zwischen neurotypisch und neuroatypisch? Wird diese irgendwann aus unserem Bewusstsein verschwinden?
Kaum vorstellbar, denn wir Menschen denken gerne in Schubladen. Gerade Autist*innen lassen sich so schwierig in Schubladen stecken. In diesem Sinne finde ich es eine gute Entwicklung, dass nun nicht mehr von verschiedenen Diagnosen, wie frühkindlichem Autismus oder Asperger-Syndrom, etc. gesprochen wird, sondern eben vom Autismusspektrum.
Engangement
Spannend zu lesen waren die Geschichten der Menschen, die sich dafür die Interessen von Autist*innen und ihrer Eltern engagiert haben. Zunächst schlossen sich Eltern, später auch Autist*innen selbst in Gruppen zusammen, was letztendlich dahin führt, was ich selbst wahrnehme, Autist*innen, die online aktiv sind und ihre Geschichten erzählen, sich vernetzen und anderen Mut machen oder Neurotypischen ihre Sicht auf die Lebenswelten erklären. Damals wie heute, gibt es keine einheitliche Community, die sich einig ist, dafür sind sie glaube ich auch einfach zu vielfältig, wie alle Menschen.
An der Neuauflage des DSM-V haben Autist*innen aktiv mitgewirkt, ein guter Schritt in Richtung einer Zusammenarbeit mit Autist*innen und Berücksichtigung ihrer Interessen. Und doch kämpfen Autist*innen in Deutschland noch immer darum, gehört und respektiert zu werden. Sie lehnen sich z.B. seit Jahren gegen Therapiemethoden auf, die ihnen beibringen wollen, wie sie sich „normaler“ verhalten, eben neurotypisch. Wir können Neurotypische wissen, was für Autist*innen das Beste ist, wenn wir uns in der Wahrnehmung der Welt und der Denkweise unterscheiden?
Ein Weg heraus aus diesem Gegeneinander von Fachkräften und Betroffen ist ganz simpel: Kommunikation. Dazu muss aus fachlicher Seite natürlich erst einmal ein Vorurteil abgebaut werden, dass Autist*innen nicht kommunizieren könnten. Sicher gibt es einige, die damit Schwierigkeiten haben, das ist allerdings nicht spezifisch für Autismus, auch neurotypische Menschen können aus verschiedenen Gründen Schwierigkeiten haben, verbal zu kommunizieren. Ein Autist, der sich genau dafür einsetzt und für Kommunikation zur Verfügung steht ist Aleksander Knaurhase. Ich habe ihn auf einem Barcamp kennengelernt und sein Buch bereits vorgestellt.
Er brachte auch mich zum Umdenken mit einer simplen Frage. „Ist es denn wichtig für mich, eine Theory of Mind zu haben?“. Damals widmete ich mich diesem Thema mit großer Begeisterung, hatte meine Masterarbeit mit einer Erklärung eingeleitet, wie wichtige diese sei, weil wir Menschen eben soziale Wesen seien und die Theory of Mind eine wichtige Grundlage sozialer Interaktion sei. Ich erläuterte weiterhin, dass diese ursprünglich als spezifisch für Autismus galt, was sie laut zahlreichen Studien nicht ist, dennoch war ich meinem neurotypischen Denken so sehr verhaftet, dass ich es für sinnvoll hielt, frühzeitig zu erkennen, ob Kinder Schwierigkeiten mit einer Theory of Mind haben. Ist es wirklich problematisch, diese Fähigkeit, nicht zu haben? Für wen ist es ein Problem?
Blick in die Zukunft
Kanner sah sein Syndrom einst als äußerst selten an, diese Annahme erwies sich letztendlich als falsch. Verschwörungstheorien entstanden, um die Ursachen zu erklären, warum es auf einmal so viele Autisten gab. Diagnostik wurde eindeutiger, das Phänomen bekannter und die Haltung ändert sich so langsam. War es in den Anfangszeiten noch ein riesiges Problem Autist zu sein, wird es vielleicht irgendwann normal. Diagnosen brauchen wir dann nicht mehr. Was wir vielleicht brauchen, ist individuelle Beratung für Menschen, egal, ob neurotypisch oder atypisch, sich in dieser komplizierten Welt zurecht zu finden. Wir brauchen sowohl Menschen, die uns ähnlich, als auch Menschen, die ganz anders als wir sind, andere Dinge können und mögen. Was wir ganz individuell benötigen, muss jede einzelne Person für sich selbst herausfinden.
Ein guter Anfang in eine bessere Gesellschaft wäre meiner Meinung nach, Menschen nicht in verschiedene Problemschubladen zu stecken. Wenn wir es schaffen würden, zu akzeptieren, wie wundervoll vielfältig wir Menschen sind und ganz unterschiedliche Eigenschaften und Bedürfnisse haben, kämen wir einer tatsächlichen Inklusion endlich näher.
Geniale Störungen
Steve Silbermann
übersetzt von Harald Stadler und Barbara Schaden
Dumont Verlag, 2017
ISBN: 978-3-8321-9845-9