Eine Geschichte für Jonas
Ein lustiger Moment, viele Ideen, ein Versprechen
Die letzte Schulstunde vor dem Wochenende ging langsam zu Ende, aber in Gedanken war Jonas bereits nicht mehr in der Schule. Er würde nachher mit seinem besten Freund in den Kletterwald fahren. Beinahe wäre alles wegen seiner blöden Verletzung am Handgelenk gescheitert, aber alles war verheilt und er konnte mitfahren.
So völlig in Gedanken, verpasste er den Moment, als er seinen Tisch aufräumen sollte. Erst als die anderen Kinder sich bereits an der Tür sammelten, bemerkte er, dass er aufhören sollte zu malen. Rasch nahm er seinen Wassereimer und die Pinsel mit zum Waschbecken. Während er die Pinsel auswusch, dachte er wieder an den Wald. Wie hoch sie wohl klettern würden?
Das Waschbecken im Kunstraum war in einer Art Wandschrank versteckt und so erlebte Jonas eine Überraschung, als er sich vom Becken abwandte: Seine Klasse war bereits vollständig verschwunden, die Lehrerin ebenfalls. Er ließ den leeren Eimer fallen und lief zur Tür. Sie war abgeschlossen.
Er rüttelte am Griff, aber sie ließ sich nicht öffnen. „Verdammt“, fluchte er. „Ich bin noch hier drin!“ Vom Flur her vernahm er keine Geräusche. „Hallo!“, rief er und klopfte an die Tür. Das Lehrerzimmer lag gar nicht so weit vom Kunstraum entfernt, er musste nur laut genug rufen. Eine Weile lang rief er, bis ihm langsam die Stimme versagte. Das durfte nicht wahr sein, sie konnten ihn doch nicht eingeschlossen haben. Hatte die Lehrerin denn nicht nachgezählt? Sie hätte es doch merken müssen. Doch dann fiel ihm ein, dass sie zu Beginn der Stunde erzählt hatte, dass sie zu einer Fortbildung müsse und sie sich bitte alle beeilen sollten. Das hatte er offensichtlich nicht getan.
Ratlos wandte er der Tür den Rücken zu und ließ sich langsam zu Boden gleiten. Dort hockte er und grübelte. Wenn ihn niemand hörte, wie sollte er hier wieder raus kommen? Sein Schulranzen stand in der Klasse, darin befand sich zwar sein Smartphone, aber das nützte ihm jetzt wenig. Es war Freitag, sollte er jetzt das ganze Wochenende hier verbringen? Irgendwann würde seine Mutter sich Sorgen machen, aber sie arbeitete heute lange. Dann knurrte auch noch sein Magen. „So eine verdammte Scheiße!“, schrie er und hämmerte erneut verzweifelt gegen die Tür.
Niemand hörte ihn. Er würde hier verhungern, dachte er und ihm kamen die Tränen. Doch dann hörte er ein seltsames Geräusch. Es kam vom Fenster. Der Junge sprang auf. Die Fenster! Das war die Lösung! Wenn sie sich öffnen ließen, konnte er auf den Schulhof hinausklettern.
Nachdem er seinen Blick dem Fenster zugewandt hatte, waren seine Sorgen auf einen Schlag vergessen. Auf der Fensterbank hockte eine Eule, nicht irgendeine Eule, eine Schneeeule. Vorsichtig näherte sich Jonas dem Tier. Sie sah aus wie Hedwig, die Eule von Harry Potter. Erst neulich hatte er noch einmal den ersten Film gesehen.
Aufmerksam beobachtete die Eule, wie der Junge sich näherte. Sie rührte sich nicht, schien keine Angst zu haben. In dem Moment als Jonas fast am Fenster angekommen war, flog sie hoch, drehte eine Runde durch den Kunstraum und landete auf dem Tisch, auf dem noch Jonas Bild lag. Mit Wasserfarben hatte er Pferde gemalt. Eines war noch ganz weiß, das andere hatte bereits ein braunes Fell. Er war nicht besonders zufrieden mit seinem Werk gewesen.
Die Schneeeule blieb direkt unterhalb des Blattes sitzen, schien das halbfertige Bild zu betrachten. Auf einmal breitete sie die Flügel aus und glitzernder Staub rieselte über das Blatt. Es leuchtete hell und Jonas musste kurz den Blick abwenden. Als er wieder hinsah, erkannte er sein eigenes Bild kaum wieder. Anstatt zwei unfertigen Pferden, die nicht besonders gut gelungen waren, sah er zwei magische Wesen vor sich, die, er konnte seinen Augen kaum trauen, sich auch noch bewegten. Aus dem noch weißen Pferd war ein Einhorn geworden, das braune Pferd hatte nun einen menschlichen Oberkörper und Kopf. Dieser wandte sich ihm nun zu, kam aus dem Bild heraus und eine freundliche Stimme sprach: „Komm näher, Menschenfreund.“ Verwirrt schüttelte Jonas den Kopf. „Du brauchst keine Angst zu haben“, bat der Kopf mit freundlicher Stimme. „Ich habe keine Angst“, erklärte Jonas mit zitternder Stimme. Wieso sprach er mit seinem eigenen Bild? Wurde er verrückt?
Da wandte sich ihm auch das Einhorn zu. „Komm ruhig näher. Wir können nicht ganz aus dem Bild heraus, aber du kannst zu uns kommen.“ Das brachte Jonas zum Lachen. Er sollte in sein eigenes Bild hinein? Niemals. Waren das die ersten Anzeichen des Verhungerns? Wo war die Eule?
Er sah sich suchend um, sie war verschwunden. Er war alleine im Kunstraum, nur er und seine Zeichnung, die inzwischen lebendig geworden war. Bildete er sich das nur ein, oder ragten dort wirklich ein Einhorn- und ein Menschenkopf aus dem Blatt Papier? Vorsichtig streckte er die Hand aus, um zu fühlen …
Doch da verschwand der Kunstraum um ihn herum. Stattdessen stand er auf einem Waldboden, die Hand am Kopf eines Einhornes. Vor Schreck hielt er sich am Horn fest. „Das ist aber sehr unhöflich“, schnaubte das Einhorn und Jonas zog schnell seine Hand zurück. Dabei wäre er beinahe rückwärts über eine Wurzel gestolpert, hätte ihn nicht ein Huf im Rücken sanft abgefangen.
„Was ist hier los?“, stammelte der Junge. „Willkommen in unserem Zauberwald“, erklärte der Zentaur, das Michwesen aus Mensch und Pferd feierlich, während er ihm den Huf seines rechten Armes freundschaftlich auf die Schulter legte. Kurz wunderte sich Jonas, dass er keine Hände hatte. Das Einhorn setze sich in Bewegung, lief einmal um die beiden herum, bis es auf der anderen Seite von Jonas zu stehen kam. So hatte er freie Sicht auf seine Umgebung, einen dichten Wald.
Der Zauberwald sah dann doch recht gewöhnlich aus, nachdem das Einhorn die Sicht auf das Grün um sie herum freigegeben hatte: Bäume, Sträucher und Bodengewächse. Jonas atmete tief ein, die Luft war nicht anders als in den Wäldern, die er bisher kannte. Und doch spürte er, dass hier alles anders war, magischer. „Komm“, sprach der Zentaur. „Setz dich auf den Rücken des Einhorns.“ Während er das sagte, knickte das Einhorn die Beine ein und legte sich neben den Jungen. So konnte er leicht aufsteigen, doch er zögerte. Nachdem er einen leichten Stups vom Zentauren bekommen hatte, legte er die Hand auf das weiße Fell. Es war ganz weich und flauschig. Automatisch begann er das Einhorn zu streicheln. „Das ist ja lieb von dir, aber so zu liegen ist nicht so bequem für mich, wie es aussieht. Also, hoch mit dir oder du läufst zu Fuß. Glaub mir, ich bin schneller als du.“
Endlich gehorchte der Junge, schwang vorsichtig ein Bein über den Rücken des Fabelwesens und setzte sich. Seine Finger glitten erneut über das weiche Fell, während das Einhorn sich erhob. Er saß tatsächlich auf dem Rücken eines echten Einhorns! Schon ging es los, im Galopp durch den Wald, einem Wald ohne feste Wege. Zwischen Bäumen hindurch, unter Ästen hinweg. Jonas zog den Kopf lieber ein. Der Zentaur lief mal vor, mal neben, dann wieder hinter ihnen. Sie sprachen nicht miteinander. Ohne zu wissen wohin es ging, genoss der Junge den Ritt bis sie auf einmal anhielten.
Der Zentaur forderte ihn auf, abzusteigen und ihm geduckt zu folgen. Er selbst bot einen seltsamen Anblick. War er zuvor in aufrechtem Gang auf seinen vier Hufen neben ihnen hergelaufen, neigte er nun den Oberkörper, knickte in den Beinen ein und bewegte sich krabbelnd auf allen Sechsen vorwärts. Doch nachdem Jonas einen strengen Blick für sein aufkeimendes Lachen erntete, ließ er sich selbst auf die Knie nieder und folgte ihm. Währenddessen hatte das Einhorn nervös einige Blätter von den Bäumen gezupft, nun folgte es ihnen, ebenfalls in einer scheinbar unnatürlichen Bewegungsweise. Sie mussten nur ein kleines Stück krabbeln bis sie einen nur durch wenige Sträucher geschützten Abgrund erreichten. Bevor er das letzte Stückchen heran kroch, ermahnte der Zentaur den Jungen mit Blicken und Gesten sich nicht von unten sehen zu lassen.
Bei dem sich bietenden Anblick wäre dem Jungen beinahe ein Schrei der Überraschung entfahren. Eine Herde von Zentauren hielt sich unten in der Ebene auf. Sie standen in kleinen Gruppen, einige einzeln und andere liefen umher. Es waren so viele, dass er sie gar nicht zählen konnte. Sie waren so unterschiedlich, ihre Pferdekörper ebenso vielfältig wie Pferde eben sein können und die menschlichen Oberkörper erst. Eine Herde von Zentauren hätte er sich niemals so bunt vorgestellt. Sogar im Haar trugen die meisten von ihnen bunte Strähnen und um die Hälse geflochtene Ketten. Woraus mochten sie gemacht sein? Er konnte es nicht erkennen, sie waren zu weit weg, nur die vielen bunten Farben leuchteten ihm entgegen. Sein Blick wanderte umher, bis es an einem schneeweißen Wesen hängen blieb. Keine bunten Farben. Stattdessen befand sich dieser Zentaur in einem Käfig, lag zusammengekauert am Boden, den Kopf abgewandt, dass er ihn nicht sehen konnte.
„Ist das deine Familie“, erkundigte er sich bei seinem Begleiter. „Ja“, seufzte der Zentaur. „Das war einmal meine Familie.“
„War?“ Wie konnte eine Familie nicht mehr die eigene Familie sein? Jonas verstand das nicht. Seine Eltern waren getrennt und doch waren sie noch immer seine Eltern. Er hatte eine Mutter und einen Vater. Sie gehörten zu seiner Familie und daran würde sich auch nichts ändern!
„Ja, wir waren eine Familie.“ Es fiel dem bisher so stark wirkenden Wesen schwer zu sprechen, daher übernahm das Einhorn: „Es ist meine Schuld“, sagte es. „Noch vor wenigen Monden gehörte er zu seiner Familie, war Teil der Herde. Er war der Prinz der Zentauren. Doch dann wurde er verstoßen.“
„Verstoßen? Was hast du denn getan?“ Um von der eigenen Familie verstoßen zu werden, musste man doch etwas schreckliches getan haben, dachte der Junge. Er bekam ein wenig Angst. Ob er sich in Gefahr befand? Doch die beiden waren so vertrauenserweckend, so lieb. Nein, er konnte sich nicht vorstellen bei ihnen in Gefahr zu sein. Anderseits konnte er auch nicht begreifen, worin das Problem bestand. „Nichts hat er getan“, sprach das Einhorn weiter. „Nichts, außer sich mit mir anzufreunden.“
„Wegen eurer Freundschaft?“ Beinahe hätte er diese Frage geschrien, doch das Einhorn bremste ihn mit einer Hufbewegung und ermahnte ihn zur Ruhe. „Aber du bist ein Einhorn!“
„Eben“, bestätigte dieses. „Ich bin ein Einhorn und die Zentauren denken, ich hätte ihn verzaubert, damit er mit mir Zeit verbringen mag.“
„Hast du?“, fragte Jonas, bereute die Frage aber im nächsten Moment, denn der Zentaur blickte ihn traurig an. „Du denkst also auch schlecht über uns?“
„Nein“, versicherte der Junge schnell. „Ich versuche zu verstehen, was hier los ist.“
„Das kann ich dir erklären“, sprach der Zentaur wieder mit ruhiger Stimme. „Die Zentauren dort unten halten sich für die Herren der Wälder. Einst vor ewigen Zeiten war dies das Gebiet der Einhörner. Es ist eine lange und grausame Geschichte, die ich dir ersparen möchte. Jedenfalls leben nur noch sehr wenige Einhörner hier in den Wäldern. Eines von ihnen hast du kennen gelernt. Ein weiteres befindet sich dort unten, in Gefangenschaft.“
Jonas schaute erneut zu dem weißen Wesen. Jetzt erst erkannte er, dass es kein Zentaur, sondern ein Einhorn war, welches dort im viel zu kleinen Käfig eingesperrt lag.
„Es ist meine Schwester“, seufzte das Einhorn. „Sie haben sie gefangen genommen, fordern die Rückkehr ihres Prinzen für ihre Freilassung.“
„Doch wenn ich zurückkehre werden sie verlangen, dass ich die Einhörner nie wieder sehe, oder noch Schlimmeres …“
„Aber ihr könnt deine Schwester doch nicht dort eingesperrt lassen“, Jonas war geschockt. „Das wollen wir doch auch gar nicht“, erklärte ihm der Zentaur. „Wir wollen meine Schwester befreien, doch dafür brauchen wir deine Hilfe. Wie benötigen deine Hände.“
„Meine Hände?“
„Ja“, sagten beide im Chor.
„Sieh genau hin. Erkennst du, wie der Käfig verschlossen ist?“
Jonas strengte sich an, konnte es aber nicht erkennen. Das Einhorn erklärte es ihm: „Sie haben meiner Schwester den Schweif abgeschnitten und die Tür des Käfigs damit verknotet. Natürlich kann niemand mit Hufen einen Knoten binden. Doch der grässliche Zwerg, der bei ihnen in Diensten steht, der kann es. Eine Schere kann er ebenso bedienen. Ach, was hasse ich diesen Winzling!“
„Warum hast du eigentlich keine Hände“, wandte er sich an den Zentauren. „Ich dachte, ihr habt einen menschlichen Oberkörper. Also, warum dann Hufe und keine Hände?“
„Kennst du Zentauren mit Hände“, kam die hoffnungsvolle Gegenfrage. Jonas schüttelte den Kopf und der Zentaur seufzte enttäuscht. „Der Legende nach hatten wir mal Hände, wahrscheinlich bis zum großen Krieg. Dann wurden wir verflucht. Einige sagen, es waren die Einhörner, andere meinen eine Hexe, die einst in einen von uns verliebt gewesen und zurückgewiesen wurde, habe diesen verhängt. Es gibt noch einzelne andere Geschichten. Allen gemein ist, dass die Magie Schuld am Verlust unserer Hände ist und wir seitdem sechs Hufe haben.“
„Also wollt ihr von mir, dass ich dort hinunter gehe und mit meinen Händen den Knoten öffne, um das Einhorn zu befreien?“
Beide nickten eifrig, erfreut, dass er ihren Plan verstanden hatte.
„Und wie bitte soll ich ungesehen dort hingelangen?“
„Einhornmagie“, lautete die absolut naheliegende Antwort.
„Aha, und warum kann deine Einhornmagie nicht den Knoten öffnen?“ Statt einer Antwort funkelte das Einhorn ihn nur böse an.
„Ok, was macht deine Magie mit mir? Mich unsichtbar.“
Erneut nickte das Einhorn zufrieden, neigte den Kopf und berührte Jonas Brust sanft mit dem Horn. Jonas wartete, doch es passierte gar nichts, kein Glitzer, kein Regenbogen, auch kein kribbelndes Gefühl.
„Es hat geklappt, ich kann dich nicht mehr sehen“, freute sich der Zentaur. „Dein Ernst?“, erkundigte sich Jonas skeptisch, blickte an sich herunter, bewegte seine Arme und schüttelte den Kopf. „Ich kann mich noch wunderbar sehen.“
„Es wäre doch seltsam, wenn du dich selbst nicht mehr sehen könntest, oder?“, erkundigte sich das Einhorn und klang mit diesem ironischen Unterton wie Jonas Sportlehrer.
„Es gibt eine ganz wichtige Regel, die du beachten musst. Du darfst kein Lebewesen berühren, sonst bricht der Zauber und du wirst für alle sichtbar.“ Besorgt schaute Jonas den Abgrund hinunter zu den zahlreichen Zentauren an denen er vorbei zum Käfig musste. Wie sollte ihm das nur gelingen, ohne einen von ihnen zu berühren?
„Wir zeigen dir, wo du hinunter kommst. Sobald du am Käfig bist, sorgen wir dort drüben auf der anderen Seite für Ablenkung. Ihr kommt denselben Weg zurück und meine Schwester findet dann zu unserem geheimen Treffpunkt. Mach dir keine Sorgen, sie wird dich tragen.“
Zu seiner Überraschung gab es tatsächlich einen nicht all zu steilen Pfad hinunter ins Tal. Der Abgrund in den er wenige Augenblicke zuvor geblickt hatte, war eher eine Wand gewesen, die er niemals hätte hinunter und schon gar nicht gemeinsam mit einem Einhorn hinaufklettern können. Es sei denn das Einhorn hätte dafür einen Zauber gehabt.
Mit klopfendem Herzen ging Jonas den Pfad entlang. So ganz konnte er der Unsichtbarkeit noch nicht trauen. Je näher er den Zentauren kam, desto nervöser wurde er. Um den Käfig zu erreichen, musste er zwischen ihnen hindurch gehen. Wie sollte er den Käfig bloß öffnen, ohne dass sie ihn bemerkten?
Sobald er unten angekommen war, verlangsamte er seine Schritte. Den Blick fest auf sein Ziel gerichtet ging er weiter. Schritt für Schritt auf die ersten Zentauren zu. Einer drehte sich um, sah genau in seine Richtung und reagierte gar nicht, drehte sich einfach weiter. Langsam bekam Jonas ein wenig Vertrauen in seine Unsichtbarkeit. Nur noch wenige Schritte und er müsste an dem ersten Zentauren vorbei. Dieser stand einfach da und schaute sich um, schien nichts besonderes zu tun. Langsam einen möglichst großen Abstand einhaltend ging der Junge an ihm vorbei. Der Zentaur war so groß, dass er nicht über seinen Rücken drüber schauen konnte. Es geschah nichts.
Doch schon bald befand sich eine Gruppe diskutierender Zentauren vor ihm. Der kürzeste Weg führte mitten durch diese Gruppe. Sie standen relativ weit voneinander entfernt, ganz anders als er es von Menschen kannte. Das war seine Chance, einfach durchzugehen. All seinen Mut zusammen nehmend, trat er mitten in die Gruppe hinein. Plötzlich bewegte sich der Zentaur zu seiner Linken, er sprang eilig auf Seite und wäre beinahe mit einem anderen zusammengestoßen. Noch einmal gut gegangen, musste er nur vorsichtig sein, dann konnte er es schaffen. Nachdem er die Gruppe passiert hatte, sah er eine freie Fläche vor sich. Erleichtert atmete er auf und beschleunigte seine Schritte. Beinahe wäre er zu unachtsam gewesen und hätte einen heran galoppierenden Zentauren übersehen. In letzter Sekunde wich er aus und blickte erschrocken dem pinkfarbenen Schweif nach.
Von oben hatte der Weg nicht so weit, wenn auch schwierig ausgesehen. Als Jonas endlich den Käfig erreichte war er nass geschwitzt. Seine Hände rieb er an der Hose trocken. Nun galt es den Knoten zu lösen, das Einhorn zu befreien und zurück zu gehen. Alles ganz einfach. Nahe dem Käfig stand ein Wächter, doch der konnte ihn ja nicht sehen. Auch das Einhorn konnte ihn nicht sehen. Niemand sah ihn oder das was er tat. Oder doch? Würde jemand sehen, wenn er den Knoten löste? Die Schweifhaare würden sich ja bewegen. Es durfte niemand gucken. Jonas sah sich besorgt um. Niemand sah in seine Richtung, also wagte er es.
Vorsichtig streckte er die Hände aus. Der Knoten war ziemlich dick und fest. Er würde es schaffen, er musste. Kräftig packte er zu und zog. Hinter ihm erklang Lärm. Kurz fürchtete er, dass ihn jemand entdeckt hatte, doch niemand beachtete ihn. Das muss die Ablenkung sein, dachte er und mühte sich weiter. Das Einhorn im Käfig wurde auf ihn oder vielmehr die Bewegungen aufmerksam. Es drehte den Kopf und beobachtete den Knoten, der sich endlich langsam löste. Jonas hatte es geschafft. Am liebsten hätte er laut losgejubelt, aber das durfte er nicht. Schnell musste er den Käfig öffnen. Die Tür ging nach außen auf, so dass der Junge Platz machen musste. Er ging langsam rückwärts, achtete dabei nicht darauf, wohin er ging, stolperte und rempelte einen Zentauren an. „Mist“, fluchte er. Der Käfig war offen, aber der Zauber verflogen. Während das Einhorn sich aus dem offenen Gefängnis befreite, beugte sich ein verwunderter Zentaur über Jonas: „Nanu, was bist du denn für ein seltsamer Zwerg.“
„Ich bin kein Zwerg. Ich bin ein Mensch.“
„Soso, ein Mensch“, murmelte der Wächter. Er schien nicht zu bemerken, dass die Tür zum Käfig offen stand. Stattdessen konzentrierte er sich auf den seltsamen Menschen. „Was willst du hier, Mensch?“, fragte er und betonte das Wort Mensch dabei sehr seltsam. „Warum hasst ihr die Einhörner?“, stellte Jonas eine Gegenfrage. Woher er den Mut nahm und nicht einfach wegrannte, wusste er selbst nicht.
„Einhörner? Warum wir Einhörner hassen, möchtest du wissen? Einhörner sind gefährliche Wesen, wir hassen sie nicht, wir fürchten sie. Wir müssen uns vor ihnen und ihrer Magie schützen.“
„Aber Einhörner sind ganz friedliche Wesen“, erklärte Jonas.
„Soso, sind sie das?“
„Ja, das sind sie. Friedlich und wunderschön.“
„Wunderschön? Ja, das sind sie wohl. Das hier im Käfig ist besonders hübsch. Manchmal reden wir auch. Es scheint sehr intelligent zu sein. Sag es keinem weiter, aber ich hab es schon ein wenig lieb gewonnen.“
„Aber, wenn du das Einhorn magst, wie kannst du es dann einsperren?“
„Na na. Erstens habe nicht ich das Einhorn eingesperrt. Ich passe hier nur auf! Zweitens habe ich dir doch gerade erklärt, dass Einhörner gefährlich sind.“
„Warum sind denn Einhörner gefährlich?“, erkundigte sich Jonas, der das Problem noch immer nicht verstand. „Weil sie Magie haben und ihr nicht?“
„Magie? Ja ja, das ist so eine Sache. Man weiß nie, was passiert, wenn sie einen mit ihrem spitzen Horn berühren.“
„Mich hat eben ein Einhorn berührt und ich bin unsichtbar geworden. Dabei habe ich gar nichts gespürt.“
„Unsichtbar?“ Der Zentaur überlegte. „Das klingt interessant. Hat es sehr weh getan?“
„Nein, ich habe gar nichts gespürt“, versicherte ihm der kleine Junge.
Der Zentaur schwieg eine Weile und dachte nach. Jonas begann ebenfalls nachzudenken, darüber wie er entkommen sollte. Ihm fiel nichts ein, sichtbar hatte er keine Chance durch die Menge zu kommen. Er war sich sicher, nicht jeden einzelnen Zentauren in ein Gespräch verwickeln zu können.
„Es tut wirklich nicht weh, wenn wir zaubern“, erklang eine freundliche helle Stimme. Das Einhorn war aus dem Käfig heraus gekommen, stand nun im Gras und streckte die Beine abwechselnd aus. „Wenn du möchtest, zeige ich es dir.“
Der Zentaur wich zurück. Im nächsten Augenblick näherte er sich wieder. „Wie bist du entkommen? Mensch, warst du das?“ Er verfiel in ein verzweifeltes Gejammer, dass er das Einhorn wieder einfangen und einsperren müsse. Dabei sei es doch so ein schönes und nettes Geschöpf. Er wollte nicht, er fürchtete sich. So tat er gar nichts, stand nur da und jammerte. Anstatt weg zu laufen, näherte sich das Einhorn. Der Zentaur lief ebenfalls nicht weg. „Ich glaube“, sprach das Einhorn. „Ich glaube, ich mag dich auch ein wenig leiden. Langsam verstehe ich meinen Bruder, auch wenn ich ziemlich sauer bin, dass er mich in diese Lage gebracht hat. Ohne ihn wäre ich nicht hier eingesperrt gewesen. Doch in den letzten Tagen habe ich euch beobachtet, besonders dich, der du hier vor meinem Käfig gehockt hast. Ihr seid uns gar nicht so unähnlich. Einige eurer Probleme könnten wir euch sogar mit unserer Magie erleichtern, wenn ihr uns nur lassen würdet.“
„Die Jahre des Krieges liegen lange zurück“, sprach der Zentaur, ohne jemanden direkt anzusprechen. „Vielleicht wird es Zeit für neue Zeiten.“ Bei diesen Worten blickte er das Einhorn hoffnungsvoll an. „Doch was können wir zwei schon tun?“, fragte er.
„Reden wir mit meinem Bruder und seinem Freund, deinem Prinzen“, schlug das Einhorn vor. Der Zentaur lachte. „Wenn ich dich frei lasse und verschwinde, bekomme ich doch selbst Schwierigkeiten.“
„Frei bin ich eh schon“, lachte das Einhorn.
Dagegen fiel dem Zentauren nichts ein. Gerade wollte er wieder ins Gejammer verfallen, da unterbrach ihn Jonas: „Komm mit uns oder bleib hier. Wir müssen gehen, bevor uns noch mehr Zentauren bemerken.“
„Du bist ein kluger Junge“, lobte das Einhorn. „Herzlichen Dank für deine Rettung.“ Es verneigte sich und berührte mit dem Horn die Brust des Kindes. Augenblicklich war er nicht mehr zu sehen. „Wo ist er hin?“, fragte der Zentaur geschockt. „Ich bin noch hier“, antwortete Jonas und seine Stimme kam von derselben Stelle. Das Einhorn lachte leise. „Leg die Decke dort drüben auf meinen Rücken, dann kann ich dich tragen und du bleibst unsichtbar.“ Die Idee gefiel Jonas, er würde nicht erneut im Slalom um die Zentauren laufen müssen. „Wenn du uns begleiten möchtest, kann ich auch dich unsichtbar machen. Bist du fort, kann dir auch niemand Ärger machen. Kehrst du mit uns gemeinsam zurück, können wir zu viert vielleicht mehr erreichen. Eine Freundschaft zwischen Einhörnern und Zentauren wäre für uns alle nur von Vorteil.“
Während Jonas auf den Rücken des Einhorns stieg und dabei streng darauf achtete, kein Fell zu berühren, grübelte der Zentaur lautstark vor sich hin. Die Wortfetzen ergaben allerdings wenig Sinn für seine Zuhörer. Endlich traf er eine Entscheidung: „Ich komme mit. Ich möchte dich näher kennen lernen und ich möchte meinen Prinz wiedersehen.“
Nachdem das Einhorn ihn berührt hatte, blickte er an sich herab, klopfte auf seinen Pferdehintern und fragte: „Hat es funktioniert?“
Jonas bestätigte es ihm: „Ich sehe dich nicht mehr, aber es hat sich angehört, als hättest du dich abgeklopft.“
„Ähm“, räusperte sich der Zentaur. „Ich denke, wir können gehen. Wir sollten gehen, bevor jemand merkt, dass du nicht mehr im Käfig bist.“
Ohne weitere Worte setzte sich das Einhorn in Bewegung. Niemand beachtete die kleine ungewöhnliche Gruppe. Jonas wunderte sich, denn das Einhorn war doch noch sichtbar. Allerdings traute er sich nicht zu fragen, denn er wusste ja, dass er auch für die anderen zu hören war. Er musste sich wohl gedulden.
Kaum hatten sie den Abhang erklommen, schüttelte sich das Einhorn und begann zu galoppieren. „Nun sind wir wieder sichtbar. Ich kann den Schimmer um mich selbst nur aufrecht erhalten, wenn ich mich langsam bewege. Wo treffen wir meinen Bruder und den Prinzen?“
„Am geheimen Treffpunkt.“ Während Jonas diese Worte aussprach kamen sie ihm so nichtssagend vor. Doch er irrte sich, denn die Geschwister wussten beide sehr genau, welcher Ort damit gemeint war. Das Einhorn änderte die Richtung und lief in den Wald hinein. Jonas wurde müde …
„Hey Jonas!“ Jemand rüttelte unsanft an seiner Schulter. „Komm schon, wir wollen doch in den Kletterwald!“ Jonas öffnete die Augen. Sein Kopf lag auf seinen Armen auf dem Schultisch. Er sah sich um. Vor ihm stand sein Freund im Kunstraum der Schule. „Wach?“, fragte er. „Dann komm jetzt. Als du nicht aufgetaucht bist, habe ich dich gesucht. Bis ich mal auf die Idee gekommen bin, dass du noch hier drin bist. Dann musste ich noch den Hausmeister holen, damit er uns aufschließt.“
„Würden die Herren dann langsam kommen“, erklang die Stimme des Hausmeisters von der Tür her.
Jonas war noch immer ein wenig verwirrt, stand aber auf, nahm sein Bild mit und folgte seinem Freund. „Ich habe ein Einhorn gerettet“, erklärte er.
„Ist klar, Jonas.“
An der Tür bückte sich Jonas und hob eine schneeweiße Eulenfeder auf.
(c) Stephanie Katharina Braun