Der Bücherschrank
Im Februar führte mein Weg mich auf die andere Rheinseite, nach Bad Honnef zur Confiserie Coppeneur. Im Gespräch mit Jasmin Coppeneur haben wir auch über die Idee von Soledad Sichert (Bonntouren) gesprochen bei Coppeneuer einen offenen Bücherschrank aufzustellen. Ich unterstütze diese Idee!
Die gemütliche Sitzecke lädt dazu ein in Büchern zu stöbern.
Auf dem Heimweg habe ich einen kurzen Halt in Königswinter gemacht und den Bücherschrank am Marktplatz aufgesucht, wo ich mein Februarbuch gefunden habe.
Frauenbild
„Die Zeit der Leoniden“ von Christine Brückner ist erstmals 1966 erschienen und erzählt die Lebensgeschichte einer Frau, die 1933 junge Mutter zweier Töchter war. Es ist die Geschichte ihrer Ehe, ihrer Liebschaft, ihrer Sexualität, ihres Lebens.
Es ist eine Geschichte, die mir verdeutlicht, wie Ehe damals in der Generation meiner Ur-Großeltern sein konnte, wie wenig die Liebe eine Rolle spielen musste. Das habe ich gewusst, dennoch fällt es mir schwer nachzuempfinden, wie wenig diese Frau eine Persönlichkeit entwickeln konnte, wie wenig sie SIE sein durfte. Es machte für sie gar keinen Sinn eine eigene Meinung zu entwickeln.
Doch als Witwe wandelt sie sich, beginnt spät eine eigene Persönlichkeit zu entwickeln. Kurz vor ihrem Tod hält sie Rückschau auf ihr Leben und nimmt uns Leser dabei mit.
Dagegen sind ihre Töchter ganz anders, haben andere Ansprüche und ein anderes Selbstbewusstsein. Dennoch unterscheiden sie sich noch stark von heutigen Frauen meiner Generation, mit all ihren individuellen Unterschieden.
Ihr verstorbener Ehemann Professor Bertram dagegen ist eine erschreckende Figur, ein Mann den ein Herzinfarkt davor rettete an die Front zu gehen, ihn auch davor bewahrte, weitere Vorlesungen an der Universität zu halten und sich tiefer im nationalsozialistischen Gedankengut zu verstricken. Dennoch musste er sich nach dem Krieg wegen seiner Zugehörigkeit zum NS-Dozentenbund verantworten.
Es erscheint mir wichtig, hin und wieder Geschichten aus dem 20. Jahrhundert zu lesen, Geschichten aus einer anderen Zeit, die aber noch gar nicht all zu lange her ist. Geschichten aus einer Zeit, die unsere Mitmenschen noch erlebt haben. Es hilft einiges zu verstehen, es hilft dankbar zu sein, für das, was sich verändert hat. Es zeigt auch, wie schnell sich die Welt und unsere Gesellschaft verändert, denn all das ist noch nicht lange her.
Schreibstil
Christine Brückner nutzt ein interessantes Stilelement, wenn man es überhaupt als solches bezeichnen darf.
Sie beginnt ihre Geschichte im Präsens:
Der Knopf, den sie in ihrer Manteltasche trägt, ist aus graugelbem Horn und hat vier Einstechlöcher.
So begleiten wir die Hauptfigur in der Gegenwart, durch ihre Erinnerungen, die entsprechend in den Vergangenheitsformen erzählt werden. Es ist schlicht, dennoch für mich erwähnenswert, weil ich Schwierigkeiten mit modernen Romanen im Präsens habe, denn diese bleiben konsequent im Präsens, auch wenn es manchmal etwas haarig wird.
Allerdings stolpere ich auch hier ab und an und frage mich, wann wir uns gerade befinden, es ist schlicht ungewohnt über so viele Zeitphasen hinweg zu lesen und dann auch noch in einer, in der ich nie gelebt habe.
Was mich auf jeden Fall stutzen lässt ist das „Ich“, dass hin und wieder auftaucht, denn eigentlich ist das Buch doch in einer Personalen Erzählperspektive geschrieben, ist Wiebe dann das „Ich“?
Fazit
Das Büchlein hat nur 155 Seiten, dennoch war es keine kurze Lektüre.
Die Geschichte war für mich nicht leicht zu lesen, stilistisch und inhaltlich, aber sehr wertvoll!
Es ist mein zweites Buch von Christine Brückner, auch das erste war keine leichte Lektüre. Es lohnt sich, ihre Werke zu lesen, über ihre Schulter einen Blick auf diese Zeit zu werfen.
Das Buch geht bei nächster Gelegenheit an einen Freund.
Ende
Am beeindruckendsten fasst das finale Zitat aus der Kurzgeschichte von Bert Brecht die Geschichte zusammen. Ob es die erwähnte Anthologie wirklich gibt, oder sie nur Teil der Geschichte ist? Ich weiß es nicht, es ist mir nicht wichtig.
Das Zitat ist bedeutungsschwer und deswegen möchte ich auch meinen Beitrag mit diesen Worten beschließen und euch ein wenig inspirieren über die Vergangenheit nachzudenken, vielleicht auch noch einmal nachzufragen, so lange es möglich ist.
Genau betrachtet lebte sie hintereinander zwei Leben. Das eine, erste, als Tochter und Mutter, und das zweite einfach als Frau B., eine alleinstehende Person ohne Verpflichtungen und mit bescheidenen, aber ausreichenden Mitteln. Das erste Leben dauerte etwa sechs Jahrzehnte, das zweite nicht mehr als zwei Jahre.
Die Zeit der Leoniden
Christine Brückner
Ullstein, 1980, (c) 1966
ISBN: 3 548 02887 X