Ich liebe gut geschriebene Dystopien, wenn sie mir das Gefühl geben, es könnte sich so entwickeln, wie in dieser Geschichte und ich mir die Frage stelle: Was müssen wir tun, um dieses Szenario zu verhindern?
„Der Store“ von Rob Hart ist in meinen Augen eine besondere Dystopie. Der Autor erzählt die Geschichte aus mehreren nachvollziehbaren Perspektiven geschrieben und es fühlt sich so an, als bliebe uns Lesenden die freie Entscheidung, ob wir das Szenario für eine akzeptable Lösung halten oder wir eine entsprechende Entwicklung lieber aufhalten wollen.
Der Store
Der Store liefert alles. Überallhin. Der Store ist Familie. Der Store schafft Arbeit und weiß, was wir zum Leben brauchen. Aber alles hat seinen Preis.
Auszug aus dem Klappentext, einfach weil er verdammt gut ist.
Die Geschichte erleben wir aus drei Perspektiven, wobei wir sehr nah an den Figuren dran sind. Das World-End-Szenario, welches zu einer guten Dystopie gehört, wird geschickt und dezent in die Handlung eingeflochten, ohne wie eine Leuchtreklame über allem zu schweben mit dem Schriftzug: Achtung ihr zerstört die Erde. Wirklich genial gemacht!
Gibson
Er ist der Unternehmensgründer. An Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt reist er noch einmal von Standort zu Standort und schreibt ein Blog über sein Lebenswerk. Wir lernen ihn als Menschen kennen, seine Motivation, seinen Antrieb, seine Ziele und seine Überzeugungen. Er ist vor allem von einem überzeugt: Er tut das Richtige. Für sich selbst und für die Menschheit.
Paxton
Der junge Mann hat einige Jahre im Gefängnis als Wächter gearbeitet. Diesen Job hat er gehasst. Dann hat er eine Erfindung gemacht, nichts, auf das die Welt gewartet hätte, aber eine, mit der er eine Weile gute Geschäfte gemacht hat. Bis er zum Opfer des Marktes wurde …
Er findet einen neuen Job, bei Cloud. Die KI teilt ihm seinen Arbeitsbereich mit. Er bekommt eine kleine Wohnung, ein blaues Shirt, welches ihn als Mitarbeiter des Sicherheitsteams ausweist. Er hätte lieber ein rotes gehabt …
Sein Armband sagt ihm, wohin er gehen muss, wann er frei hat und hilft ihm durch den Tag. Wohnen, arbeiten und Freizeitangebote liegen nah beieinander, niemand braucht die Cloud zu verlassen … Niemand, der im Ratingsystem nicht zu tief abfällt, denn dann muss man die Cloud verlassen …
Zinnia
Die junge Frau beginnt zeitgleich mit Paxton bei dem größten Onlinestore, der nahezu konkurrenzlos ist. Ihr wird ein rotes Shirt gegeben, was sie zur Lagerarbeiterin macht. Auch sie hätte lieber eine andere Stelle gehabt …
Sie verfolgt ihre eigenen Ziele …
Die beiden begegnen sich bereits beim Einstellungstest, fahren gemeinsam mit dem Bus und lernen sich kennen …
Heile Welt zu welchem Preis?
Das Leben in der Cloud-Familie ist sicher, so lange man seinen Beitrag leistet. Das bedeutet man sollte mehr als einen von fünf Sternen in der Bewertung halten. Dann ist dein Lebensunterhalt gesichert, du hast ein Zuhause, ein Einkommen und einen sicheren Ort zum leben. Klingt super oder?
Welchen Preis dieses System hat erzählt Rob Hart in seinem Roman.
Doch ich verrate euch sicher nicht zu viel, wenn ich Freiheit und Kreativität als Preis für ein sicheres Leben nenne. Es ist nicht deine Entscheidung, welche Aufgabe du in dieser Familie bekommst. Das System entscheidet, was du tun wirst. Für Kreativität ist in einem solchen durchgeplanten System ebenfalls wenig Raum.
Welcher Weg führt zu diesem Szenario?
Um ein bestimmtes Szenario zu verhindern, müssen wir nachvollziehen, wie es dazu kam. Hinweise darauf liefert uns Firmenchef Gibson persönlich …
Der Titel verrät schon einen Teil des Szenarios „Der Store“, der eine Laden, der den Markt dominiert und das Leben vieler Menschen. Ich habe bei einigen schon die Assoziation mit Amazon gelesen. Ein Onlinebuchhandel, der inzwischen so ziemlich alles anbietet, inklusive eigenem Lieferdienst. Ja, einige der im Buch angesprochenen Probleme könnten auf dieses Unternehmen anspielen.
Allerdings denke ich, dass wir nicht einen einzelnen Großkonzern ins Blickfeld nehmen sollten. Es ist eher eine Gesamtentwicklung innerhalb unserer Wirtschaft, weg von den klassischen Branchen und konkurrierenden Unternehmen innerhalb dieser. Was wäre, wenn wir irgendwann nur noch einen einzigen Großkonzern hätten, der unser Leben dominiert.
Kleiner (naiver) Blick auf unsere Wirtschaft
Ich bin kein Wirtschaftsexperte, aber auch ich sehe, dass sich einiges grundlegend verändert. Auf der einen Seite stehen riesige Konzerne, von denen viele von uns nicht einmal wissen, welche Unternehmen alle dazu gehören. Auf der anderen Seite haben wir eine kreative und lebendige Startup-Szene. Startups haben ganz andere Möglichkeiten kreativ neues zu entwickeln. Was ihnen fehlt ist Geld …
So fasziniert ich von der Gründerszene und den Ideen bin, so beschleicht mich hin und wieder die Sorge, dass „die Großen“ beobachten, abwarten und einkaufen, was gut funktioniert. So wachsen sie weiter. Vielleicht irre ich mich, Manchmal etablieren sich auch kleine StartUps am Markt und wachsen.
Das Wachstum mehrerer Konzerne sehe ich nicht als grundlegendes Problem, so lange es eben noch eine Unternehmenslandschaft gibt. Insbesondere so lange nicht eine einzelne Person an der Spitze von wirklich Allem steht. Es braucht Menschen, die unterschiedliche Perspektiven einnehmen, diskutieren, streiten und sinnvolle Entwicklungen ermöglichen, die eben nicht von der Laune eines Einzelnen abhängen.
So gut ein einzelner es auch meinen mag, irren ist menschlich und auf den Irrtum können einen nur Menschen oder Erfahrungen hinweisen. Irrt sich eine Person mit extremer Macht, hat die Erfahrung für viele negative Konsequenzen. Da ist es besser, vorher kritisch zu prüfen.
Menschen nicht vergessen
In der Wirtschaft geht es um Geld, wobei es inzwischen einige Unternehmer und reiche Menschen gibt, die verstehen, dass mit Reichtum auch Verantwortung einhergeht.
Zunehmend wird klarer, dass bei aller Digitalisierung der Mensch als Arbeitnehmer eine wichtige Ressource ist. Auch mit Blick auf die Finanzen ist es wichtig, dass es den Mitarbeitenden gut geht. Unzufriedene, kranke Mitarbeitende sind unproduktiv und kosten. Diese Formel verstehen auch eiskalt kalkulierende Firmenbosse.
An dieser Stelle sehe ich den Wert des Buches. Was genau brauchen die Menschen? Ein gesichertes Leben, Wohnung und Freizeitangebot. Darf der Job dann eintönig sein?
Die unteren Stufe der Bedürfnispyramide nach Maslow sind erfüllt, diese werden auch als Defizitbedürfnisse bezeichnet. Fehlt etwas, tut es weh und Menschen streben danach, diese zu erfüllen (physiologische Bedürfnisse, Sicherheit und soziale Bedürfnisse). Diese sind im Roman durch Cloud gesichert. Doch die Spitze der Pyramide, die Wachstumsbedürfnisse, wie individuelle Bedürfnisse, Selbstverwirklichung oder gar Transzendenz werden ignoriert. Gibson scheint sie sich zu erfüllen, über den Tod hinaus, indem er seine Hoffnungen in die Nachfolge legt und sein Erbe hinterlässt.
Gibson sagt, es sei wichtig für Menschen, dass sie Arbeit haben, eine Aufgabe. Das ist richtig. Allerdings lässt er sie teilweise bewusst Aufgaben übernehmen, die auch von Robotern erledigt werden können. Im Sternesystem steckt die Möglichkeit aufzusteigen, Manager zu werden. Ist das dann die Selbstverwirklichung? Kann das funktionieren? Seit der Industrialisierung gibt es Fließbandarbeiter. Ich habe diese Tätigkeit nie ausgeführt, empfinde die Vorstellung für mich als schrecklich und kann mir nur vorstellen, dass diese Tätigkeit als Job angesehen wird, um den Lebensunterhalt zu sichern. Bedürfnisse nach Entfaltung müssten dann in der Freizeit erfüllt werden, im Rahmen der zur Verfügung stehenden Möglichkeiten. Unsere Welt ist weit entfernt davon perfekt zu sein.
Die New Work Bewegung ist ein Anzeichen dafür, dass viele Menschen sich eine andere Entwicklung wünschen. Mehr Freiheitsgrade, mehr Menschlichkeit bei angemessener Bezahlung.
Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass mir die Wertschätzung meiner Arbeit unglaublich wichtig ist. Hagelt es lediglich Kritik, kann ich diese annehmen und meine Arbeit verbessern, verliere aber meine Motivation und fühle mich selbst wertlos, insbesondere, wenn die Tätigkeit schlecht bezahlt wird. Das ist allerdings mein ganz persönliches Bedürfnis, andere Menschen haben andere Bedürfnisse, die ihnen wichtig sind.
Mein Wunsch für die Zukunft
Jeder einzelne bleibt für sich selbst verantwortlich, kann frei Entscheidungen treffen, dass eigene Leben zu gestalten. Selbstverständlich in einem Rahmen, der andere nicht einschränkt.
Der Arbeitsmarkt muss vielfältig bleiben, denn das sind wir Menschen auch. Wir sind keine Ameisen, die nach Farben sortiert jeden Tag denselben Routinen folgen können und damit glücklich werden. Was jeder einzelne von uns tatsächlich braucht ist individuell sehr verschieden und oft wissen wir es selbst nicht so genau.
Wir stehen an einem Wendepunkt, an dem sich vielen ändert und auch ändern muss. Die Frage ist, in welche Richtung geht es und wer trifft die Entscheidungen?
Klima, Wirtschaft, Politik und unser eigenes Leben, denn es ist unsere Zukunft und die unserer Kinder!
Greta Thunberg hat es vorgemacht. Sie hat Veränderungen eingefordert, alleine, als junges Mädchen. Doch inzwischen ist sie nicht mehr allein. Viele Menschen stehen auf und setzen sich für das Klima ein und das bereits seit einem guten Jahr.
Vor einem Jahr war ich auf der Digital2018. Ich war fasziniert von den Entwicklungen und war damals schon der Meinung, dass wir unsere Zukunft aktiv mitgestalten müssen. Auf viele Fragen habe ich noch immer keine Antworten. Ich habe zwei Möglichkeiten: Abwarten und beobachten, wie sich alles entwickelt oder mitdenken, mitreden und mitgestalten im Rahmen meiner Möglichkeiten. Und ihr auch! Wie entscheidet ihr euch? Abwarten oder mitdenken und mitreden? (Mitreden ist nicht dasselbe wie auf alles schimpfen!)
Das Buch wurde mir über das Bloggerportal von RandomHouse zur Verfügung gestellt. Link zur Verlagsseite mit Leseprobe
Der Store
Rob Hart
übersetzt von Bernhard Kleinschmidt
Heyne, 2019
ISBN:978-3-453-27230-9