Blumen wachsen auf einem Baumstumpf

Als Psychologin habe ich theoretisches Fachwissen. Doch meiner Ansicht nach ist in der Wissenschaft nichts in Stein gemeißelt. Gerade die Psychologie, die Wissenschaft des menschlichen Erlebens und Verhaltens, basiert auf Theorien und Studien an Menschen. Wir versuchen menschliches Verhalten zu beschreiben, erklären und vorherzusagen. Dies gelingt auf Basis von Daten und Wahrscheinlichkeiten. Was auf theoretischer Basis gut funktioniert, wird schwieriger, wenn wir einzelne Personen und konkretes Verhalten betrachten. Zynisch habe ich die Sozialpsychologie mal folgendermaßen beschrieben:

Egal, wie ein Individuum oder auch eine Gruppe von Personen sich verhält, es gibt für jede Variante eine Theorie, die es erklären kann.

Die Prüfung zu den sozialpsychologischen Theorien war dann auch nicht meine beste … bei der Einstellung lernt es sich nicht so erfolgreich …

Faszination Autismus

Einer der Gründe Psychologie zu studieren, war tatsächlich eine gewisse Faszination für das Thema Autismus. Ausgelöst durch einen Film „Das Kartenhaus“, welchen ich als Kind gesehen habe. Dieser und meine ersten Recherchen ließen mich glauben, es sei ein extrem seltenes Phänomen. Den Film habe ich nicht noch einmal gesehen, übrigens auch „Rain Man“ nie, der streng genommen keinen Autisten darstellt. Kim Peek war ein Savant (siehe z.B. Welt.de).

Stattdessen habe ich mich intensiv mit dem Thema Autismus befasst, theoretisch, wissenschaftlich und persönlich. Ich kenne einige Autisten, denn es handelt sich nicht um eine extrem seltene Diagnose. Wahrscheinlich kenne ich mehr, als mir bewusst ist. Autismus ist nicht ansteckend und auch nicht sofort sichtbar!

Persönlich finde ich es wichtig, das fachlich-theoretische Wissen mit der Realität abzugleichen. Damit meine ich allerdings nicht, Personen ihre Diagnosen abzusprechen. Jedes Mal, wenn ich den folgenden Satz höre, weiß ich nicht, was ich dazu sagen soll:

XY hat eine Autismus Spektrum Diagnose, aber ich und ID sind davon überzeugt, dass das falsch ist.

frei zitierte häufig gehörte Aussage

Meist wird das nicht weiter begründet. In der Regel sind es Aussagen von Personen ohne diagnostische Qualifikation, die auf Basis ihrer Meinung und Erfahrungen urteilen. Gerade die Diagnose im Autismus Spektrum ist komplex und zur Verwunderung und auf Kosten der Nerven einiger Beteiligter ein langwieriger Prozess. Ja, es gibt Fehler in der Diagnostik. Doch das Hauptproblem, warum viele gerade im Bereich Autismus einzelnen Personen die Diagnose absprechen möchten, ist das vielfältige Bild, dass uns Personen aus dem Spektrum bieten. Sie haben nicht alle begrenzte Spezialinteressen und zeigen auch nicht grundsätzlich asoziales Verhalten.

Autisten sind Menschen und keine Aliens

Im Laufe der Jahre habe ich mich von der Faszination für ein Phänomen gelöst und erkannt, dass Autisten auch bloß Menschen sind. Meinem Interesse für die Thematik Autismus hat das nicht geschadet, aber ich habe eine klare Haltung diesen Menschen gegenüber:

Ich sehe sie als Menschen. Meiner Erfahrung nach sind Autisten so vielfältig, wie alle anderen auch!

Sei du selbst!

Jeder von uns hat seine Stärken und Schwächen! Bewegst du dich in allen Variablen innerhalb der Norm? Ich nicht, ganz ehrlich. Normal und Durchschnitt in allen Bereichen wäre auch langweilig, oder? Ich bin davon überzeugt, dass jeder von uns in einigen Variablen zumindest tendenziell in den oberen Bereich der Normalverteilung wandert, in anderen dafür eher nach unten. Viele Schwächen lassen sich kompensieren oder sind für unser tägliches Leben nicht relevant, bei anderen benötigen wir Hilfe. Banales Beispiel: Ich bin 1,63 m groß, was tatsächlich im Normbereich einer Frau liegt. Trotzdem benötige ich hin und wieder Hilfe, weil ich an bestimmte Dinge einfach nicht dran komme. Bisher hat sich immer jemand gefunden.

Je offener wir mit solchen Schwierigkeiten umgehen dürfen, desto näher kommen wir tatsächlich der Idee einer inklusiven Gesellschaft!

Auch wenn uns die Inklusion von oben (WHO) diktiert wurde, ist es ein wertvoller Gedanke, den es gesellschaftlich umzusetzen gilt. Institutionen können und müssen Rahmenbedingungen schaffen, umdenken müssen wir Menschen. Wenn uns das gelingt, dürfen wir alle mehr wir selbst sein, selbstverständlich innerhalb eines gesellschaftlichen moralischen Rahmens. Gewisse Grenzen und Regeln sind für ein Zusammenleben notwendig.

Autismus von Innen und Außen

Das ständige Hinterfragen und Abgleichen von Theorie und Praxis gehört ebenso zu meiner Grundhaltung. Passt das theoretische Wissen in die Wirklichkeit? Gibt es möglicherweise neuere Studien, die ältere widerlegen?

Welche Bedürfnisse haben Menschen, die diagnostisch zum Autismus Spektrum zählen? Wie sehen sie selbst das Thema Autismus und welche Anforderungen haben sie an uns Fachleute?

Spannende Fragen auf die es sehr kontroverse Antworten gibt, was schlicht daran liegt, dass es eben nicht den Prototypen eines Autisten gibt. Sie sind Menschen, wie wir alle auch, mit vielfältigen Meinungen, die es wert sind gehört zu werden. Ich höre ihnen gerne zu, ebenso Angehörigen. Auf Twitter gibt es zahlreiche Accounts, die sich der Thematik aus verschiedenen Perspektiven widmen.

Aleksander Knauerhase habe ich bereits mehrmals persönlich getroffen und schätze den Austausch mit ihm sehr. Ausführlich habe ich über seine Perspektive „Autismus aus der Innenansicht“ bereits nach seiner Session auf dem Sozialcamp 2018 berichtet.

Autismus mal anders ~ Aleksander Knauerhase
Autismus mal anders ~ Aleksander Knauerhase

Leseempfehlung „Autismus mal anders“

Dieser Beitrag wurde inspiriert von seinem Buch „Autismus mal anders“, welches mich seit Monaten begleitet. Es hat „nur“ 200 Seiten, aber ich habe es langsam gelesen, immer mal ein Kapitel, längere Pausen dazwischen, dann mal mehrere Kapitel am Stück. Ich halte es für ein wertvolles Buch. Es ist kein Fachbuch, sondern die Perspektive einer einzelnen Person, die sich intensiv mit dem Thema Autismus auseinander gesetzt hat. Dabei reflektiert er das eigene Erleben, vergleicht es mit theoretischen Erkenntnissen und zahlreichen Sichtweisen von anderen Autisten und Nicht-Autisten. Im Grunde geht er dabei ähnlich vor wie ich: Er blickt von innen und ich von außen auf das Thema Autismus. Wir beide leben in derselben Welt, erleben sie verschieden (wie du und ich auch) und haben von Anfang an eine gute Basis gefunden miteinander zu kommunizieren.

Zum guten Schluss:

Autisten sind Menschen und keine Aliens! Jeder ist anders, manche fallen mehr auf als andere. Manche mögen wir mehr als andere. So ist unsere Welt. Lasst uns offener sein für die Vielfalt der Menschen, die uns umgeben. Egal, ob Autist oder nicht. Egal, ob ein Mensch sichtbare oder unsichtbare Einschränkungen hat. Statt Berührungsängste zu haben, seid ehrlich, dass ihr unsicher seid und lasst euch sagen, welches Verhalten sich die Person wünscht. Tatsächlich habe ich mir schon blöde Kommentare anhören müssen, weil ich helfen wollte. Allerdings überwiegen die überraschten Blicke bisher! Einfach mal lächeln und fragen:

Kann ich dir/ Ihnen helfen?

Ein allerletzter Gedanke

In diesem Beitrag schreibe ich über das Thema Autismus und doch geht es um viel mehr, um unsere Gesellschaft und viele Themen.

  • Bleibt offen für neue Erfahrungen und ordnet diese in euer bisheriges Wissen ein.
  • Lasst euch inspirieren, mal über den eigenen Tellerrand zu gucken und mal andere Perspektiven kennen zu lernen.
  • Menschen sind vielfältig, das ist gut so und macht es so spannend neue Leute kennen zu lernen. Manche passen zu dir, andere weniger. Zieh dich zurück, wenn es nicht gut passt, aber urteile bitte nicht vorschnell.

Autismus mal anders
Aleksander Knaurhase
Selfpublisher, erschienen 2016
ISBN: 978-3741235016