Im Vorfeld des dritten #SozialCamp habe ich mich besonders darauf gefreut Aleksander Knauerhase wieder zu sehen. Kennen gelernt habe ich ihn auf dem ersten Sozialcamp 2016. Da für mich das Thema Autismus aktuell sehr wichtig ist, widme ich der Session von Aleksander einen eigenen Beitrag. Den Bericht über das SozialCamp 2018 findet ihr hier.
Dieser Artikel kann Autismus nicht umfassend erklären! Es sind auch keine wissenschaftlichen Erklärungen, sondern die Ansichten eines Autisten, der sich wiederum umfassend mit dem Thema auseinander gesetzt hat, auch mit wissenschaftlichen Erkenntnissen. Alle Aussagen sind durch meine eigene Wahrnehmung, inklusive psychologischem Fachwissen gefiltert und ergänzt.

Aleksander Knauerhase auf dem Sozialcamp 2018 – Halb im Bild Sonja Kröll, die auf dem noch leeren Papier ein Sketchnote zaubern wird (siehe Bild am Ende des Beitrages)
Aleksander Knauerhase
Mit 35 Jahren erhielt er die Diagnose „Asperger-Autismus“. Warum nicht früher?, war eine Frage auf dem Barcamp. Die Antwort ist tatsächlich, dass es diese Diagnose in seiner Kindheit noch nicht gab. Im Klassifikationssystem ICD-10 tauchte Autismus zum ersten Mal auf. Die 10. ICD-Version gilt seit 1992, die 11. Version liegt bereits vor und wird ab 2019 voraussichtlich gelten. Beschrieben wurde das Asperger-Syndrom bereits 1944.
Vorher hatte er bereits die Diagnose Hochbegabung erhalten, die genügte aber nicht zur Erklärung. Irgendwann war der Leidensdruck so groß, dass er den eigenen Verdacht abklären lassen wollte, nachdem er lange nicht glauben konnte, dass er möglicherweise Autist sei. Seine Hausärztin (zweiter Versuch) hat dem Wunsch nach Abklärung entsprochen. Er hat später gefragt, ob sie die Idee nicht angezweifelt habe. Darauf erwiderte sie, dass er eine Klärung gewünscht habe und die stehe ihm zu. Im Zweifel wäre herausgekommen, dass es das nicht sei. Mehr Ärzte sollten so wunderbar unkompliziert denken.
Die Diagnose selbst hat ihn erleichtert, es gab einen Namen, eine Erklärung für sein Anderssein. Eine Krise war dann für ihn zu sehen, wie die Gesellschaft Autisten sieht. Er hat sich drei Jahre Zeit genommen, den Autismus zu verstehen und für sich selbst anzunehmen. Die Einschränkungen akzeptiert er, auch wenn sie ihn manchmal ärgern, aber er sieht auch die Vorteile.
Bereits seit fünf Jahren ist er aktiver Speaker zum Thema Autismus. Er spricht aus der persönlichen Perspektive. Sachlich und offen klärt er darüber auf, dass Autisten Menschen sind und keine Aliens. Ein Buch hat er bereits veröffentlicht, dass ich sehr empfehlen kann: „Autismus mal anders“. In seinem Blog schreibt er viel zum Thema Autismus und ist auf Twitter aktiv. Man findet ihn als QuerDenkender im Netz auf Quergedachtes.
Was ist Autismus und was nicht?
Es kursieren einige Fehlinformationen in den Köpfen, die teilweise durch Filme geprägt sind. Auf der anderen Seite ergeben sich auch neue Forschungsergebnisse, die ältere korrigieren müssen. Der Haken an Forschungsergebnissen: Es braucht seine Zeit, bis sie publiziert sind, Zeit bis sie in Fachkreisen akzeptiert und umgesetzt sind und Zeit, bis die Erkenntnisse in der Gesellschaft verbreitet sind.
So galt die Theory of Mind, ein Konzept für das ich mich persönlich sehr interessiere, als Autismus-spezifisch, was es aber tatsächlich nicht ist. Aleksander hat 2016 meine Ansichten über die Wichtigkeit der Theory of Mind grundlegend in Frage gestellt. Danke dir dafür! Ich finde es wichtig aus fachlicher Sicht, offen für solche Kritik zu sein und die Menschen in den Fokus zu nehmen, denen letztendlich geholfen werden soll.
Autismus-Spektrum-Störung
Nach dem derzeit noch gültigen Klassifikationssystem ICD-10 gilt Autismus als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“ und es werden unterschiedliche Diagnosen vergeben:
- der Frühkindliche Autismus (F84.0)
- der Atypische Autismus (F84.1)
- das Asperger-Syndrom (F84.5)
- das Rett-Syndrom (F84.2)
Aleksander beschränkte sich in seinem Vortrag auf die ersten drei Diagnosen und stellte eine anschauliche Unterscheidung aus seiner Sicht vor:
Ein Asperger-Autist kann im Intelligenzspektrum alles sein, nur nicht geistig behindert. Von einem Frühkindlichen Autisten unterscheiden sich Asperger-Autisten vor allem in ihren sprachlichen Kompetenzen. Bei Atypischen Autisten werden nicht alle Diagnose-Kriterien erfüllt, aber der Diagnostiker ist sich ziemlich sicher, dass es sich um Autismus handelt. Man könnte meinen, die atypischen Autisten seien die Unauffälligsten, Aleksander berichtet aus seiner Wahrnehmung, dass gerade die Atypischen auf ihn besonders autistisch wirken.
Schwierige Diagnostik
Da es tatsächlich keine Eigenschaften gibt, die Autismus-spezifisch und exklusiv sind, ist es eine Herausforderung für die Diagnostik eine eindeutige Diagnose zu stellen. Gerade frühkindliche Autisten kommunizieren hauptsächlich nonverbal, was viele Testverfahren ausschließt. Auch die Anforderung, dass Testverfahren meist Interaktionen erfordern, macht die Situation nicht einfacher.
Autismus ist genetisch bedingt, daher wird natürlich auch in diese Richtung intensiv geforscht. Gentests sind eng verbunden mit Pränataldiagnostik und daran hängt eine komplexe ethische Diskussion.
Es gibt auch nicht den einen Autisten und der einzelne hat bessere und schlechtere Tage. Jemand, der seinen Alltag grundsätzlich gut meistert, kann an manchen Tagen überfordert sein. Aleksander erzählte hier ein Beispiel von einer Frau, die sich weigerte eine große Straße mit Straßenbahnen in der Mitte zu überqueren. Die Betreuer hielten sie für bockig, sie war überfordert, obwohl sie an anderen Tagen die Situation problemlos hätte meistern können.
Wenn Aleksander überlastet ist, kann er manchmal nur noch in 3-Wort-Sätzen denken, obwohl er sonst sehr kommunikativ ist. Er „gleitet auf dem Spektrum“. So ergeht es auch vielen anderen Autisten, wie auch Nicht-Autisten, die ebenso gute und schlechte Tage haben. Vielfältigkeit und unterschiedliche Tagesformen zu haben ist menschlich.
Es kam die Frage auf, ob Autismus eine Modediagnose sei. Das Thema scheint immer präsenter zu werden. Gibt es auch mehr Autisten? Da Autismus genetisch bedingt ist, wahrscheinlich nicht. In unserer modernen reizüberfluteten Welt fallen sie möglicherweise aber auch stärker auf, als früher. Andererseits haben sich Forschung und Diagnostik weiter entwickelt und mehr Diagnosen sind möglich, auch für inzwischen erwachsene Autisten. Ist eine Diagnose bekannter, findet sie auch mehr Beachtung und die Diagnostiker ziehen sie auch eher in Erwägung. Die Schattenseite einer solchen Fokussierung ist natürlich, dass manche hinter jedem Busch einen Autisten wittern. Hier sind gute Diagnostiker gefragt.
Ein guter Diagnostiker muss hinter die Maske schauen können. Viele Autisten lernen mit ihrer Andersartigkeit umzugehen und bemühen sich um Anpassung an die gesellschaftlichen Normen. Je besser ihnen das gelingt, desto schwieriger ist es, sie zu erkennen. Das bedeutet aber nicht, dass es ihnen damit gut geht. Verharrt ein Diagnostiker zu stark in seinen Schemata, übersieht er leicht etwas. Ein leichter Weg wäre zu sagen: „Sie schauen mir in die Augen, deswegen können Sie kein Autist sein.“ Hat der Autist aber gelernt, der Blick in die Augen sei wichtig und hat das Verhalten angenommen, obwohl er sich damit unwohl fühlt, wird er das Verhalten im Diagnosegespräch nicht ablegen.
Anhaltender Blickkontakt wird übrigens zu starren. Starren ist Teil eines Machtspiels und für alle Menschen unangenehm.
Die Diagnose hilft zu sich selbst zu verstehen. Welche weiteren Hilfen nötig sind, ist individuell verschieden. Sie ist nötig, wenn Hilfen, wie z.B. eine Schulbegleitung in der Regelschule, beantragt werden sollen.
Keine Inselbegabung
Eine weit verbreitete Assoziation mit Autisten scheint zu sein, dass sie eine Inselbegabung haben. Das habe ich selbst schon häufig beobachtet. Diese Annahme ist falsch. Menschen mit einer Inselbegabung haben das äußerst seltene Savant-Syndrom. Dies kann zusammen mit Autismus auftreten, muss es aber nicht! Vor allem hat nicht jeder Autist eine Inselbegabung. Diese kann für Außenstehende faszinierend sein, bedeutet aber, dass die Person mit der einen besonderen Begabung, ansonsten große Schwierigkeiten in der Bewältigung des Alltages hat.
Ich glaube, dass sich das Missverständnis nicht nur wegen des von mir nie gesehenen Films „Rainman“ hält, sondern eine Verwechslung mit den Spezialinteressen vorliegt. Viele Autisten interessieren sich, genau wie alle anderen auch, für ein oder auch mehrere Themen besonders stark und neigen dazu sich intensiv damit zu befassen und ein Experte für dieses Thema zu werden.
Aufgrund der Missverständnisse werden kommunikative Autisten aber häufig nach ihrer Superkraft gefragt und begegnen einem Erwartungsdruck, den sie nicht erfüllen können.
Wahrnehmung von Autisten
Die wichtigste Grundlage für das Verständnis von Autisten ist ihre Wahrnehmung zu verstehen. Aleksander glaubte bis zu seiner Diagnose, seine Wahrnehmung sei vollkommen normal und es ginge allen Menschen so. Daher war es zunächst schwierig für ihn Erklärungen zu finden, aber es scheint ein wertvoller Schlüssel zum Verständnis zu sein.
Der Thalamus filtert im Gehirn unsere Reize. Schätzungsweise nehmen wir nur 1 von 1000 Reizen, ca. 60 bis 70 Reize pro Sekunde bewusst wahr. Dieser Reizfilter lässt bei Autisten mehr Reize durch, die abgearbeitet werden müssen. Dies bedeutet mehr Stress für Autisten. Stress führt zu einer verlangsamten Verarbeitung, währenddessen sich immer mehr Reize anstauen.
Alter
Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, entsprechend gibt es ein physisches Alter, gemessen am Geburtstag und ein Entwicklungsalter. Die Diskrepanz kann ab dem Jugendalter weniger auffällig werden, dafür gibt es aber keine Garantie.
Ein Beispiel für diese Diskrepanz ist das als unangemessen empfundene Verhalten eines Kindes, dass während eines Dokumentarfilmes über einen Krieg lacht. Das Kind war von seinem Entwicklungsalter her noch nicht so weit, das Konzept des Krieges zu begreifen, entsprechend war es kein amüsiertes Lachen, sondern ein Verlegenheitslachen.
Bei sprachgewandten Asperger-Autisten kann es sogar drei unterschiedliche Altersstufen geben: Sie sind möglicherweise sprachlich ihrem physischen Alter voraus, aber in ihrem Entwicklungsalter zurück. Eltern, Erzieher, Lehrer und Schulbegleiter stehen hier vor der riesigen Aufgabe, diese Diskrepanzen auszugleichen. Kinder stehen häufig vor Aufgaben, die selbst dem physischen Alter, schon gar nicht dem Entwicklungsalter angemessen sind.
Hyperfokus
Fokussieren geht super, wirkt auf Außenstehende oft wie unsinnige Beschäftigung.
Es gibt das Konzept des funktionalen Spielens. Es ist auch eine diagnostische Frage, ob das Kind mit dem Spielzeug funktional spielt. Dies bedeutet beispielsweise ein Spielzeugauto wie ein Auto fahren zu lassen. Viele Autisten drehen beispielsweise gerne an einem Rad. Diese Tätigkeit ist für sie sinnvoll und funktional, auch wenn es nach außen anders wirken mag. Sie legen den Fokus auf ein Detail, welches sie fasziniert. Aleksander plädiert dafür die Bewertungsgrundlage zu korrigieren. Jedes Handeln hat einen Grund und einen Sinn. Der goldene Weg zum Verständnis wäre zu fragen: Warum handelt diese Person so?
Der Hyperfokus ist vergleichbar mit dem Eintauchen in ein Buch, wenn die Außenwelt völlig verblasst und der Leser kaum ansprechbar ist. Der Hyperfokus schützt den Autisten vor der Reizüberflutung.
Talente von Autisten
Es gibt IT-Firmen, die gezielt nach Autisten suchen. Die strikt logische Denkweise, das Bedürfnis nach Struktur und die Wahrnehmung eines Autisten passt gut zu den Anforderungen eines IT-Unternehmens. Es ist daher ein Arbeitsbereich, der sich anbietet, aber nicht der einzige! Alexander kennt auch zahlreiche kreative Autisten.
Talente von Autisten sind genau so breit gefächert wie bei allen anderen auch. Trau dich!
Abschließende Worte
Aleksander möchte nichts beschönigen, aber den Autismus nicht auf Defizite reduzieren. Es gibt bei ihm Phasen in denen er unter dem Autismus leidet. Ganz ehrlich, wer leidet nicht hin und wieder unter seinen Schwächen? Ist das nicht auch vollkommen menschlich?
Autisten kommunizieren sehr direkt, meinen das aber selten böse!
Sage niemals zu einem Autisten, aber auch nicht zu einem Depressiven, etc., am besten niemals: „Stell dich nicht so an!“ Der Autist, der sich verweigert, läuft gerade auf eine Barriere zu und weiß sich nicht zu helfen.
Wir Menschen brauchen Schubladen um zu verstehen. Erklärungen brauchen Abgrenzungen. Dennoch gehören Autisten zur Norm dazu, das bedeutet Inklusion.
Ich bin Mensch, war ich immer und bleibe ich!

Sketchnote zur Session „Autismus das große Fragezeichen“ von Sonja www.mimikro.de