Puuuh, welch ein Werk, 1528 klein bedruckte Seiten, schwer und unhandlich, aber es hat sich gelohnt!
Es beginnt im Jahr 1805 zur Zeit von Napoleon und Zar Alexander I und spielt mehr in Kriegs- als in Friedenszeiten. Wir lernen eine Vielzahl von Hauptpersonen kennen und begleiten diese durch die nächsten 7 Jahre. Wir finden detailreiche Schilderungen von Schlachten, aber auch Gedanken zu dem „Warum“ des Krieges. Wir können unser Französisch auffrischen (viele frz. Sätze sind enthalten, werden aber in der Fußnote auf gleicher Seite übersetzt), erfahren viel über die russische Mentalität und lernen Tolstois ganz eigene Gedanken zu Napoleon und Zar Alexander kennen.
Ja, es hat mir gefallen! Schon nach wenigen Seiten war ich gespannt, war ich mitten drin. Ok, manche Schlacht wurde mir etwas zu detailliert geschildert und manchmal habe ich bei der Vielzahl der Personen etwas den Überblick verloren. Aber ich fand es faszinierend wie Tolstoi sich mehrfach quasi über die Historiker erhoben hat und ihre Beschreibungen als falsch hingestellt hat, fand es faszinierend seinen Gedanken zu folgen. Ohne viel Ahnung von dieser Zeit und dem Krieg zu haben, fand ich es spannend zu lesen, dass Napoleon und Zar Alexander eigentlich mal Freunde waren, dass irgendwann keiner so genau wusste, warum jetzt eigentlich Krieg sein musste. War mitgerissen von der Liebe des einzelnen Soldaten zum Vaterland, von den menschlichen Gesten während bzw. nach den Kämpfen. Ich fand es bewundernswert wie intensiv sich Tolstoi mit der Geschichte auseinander gesetzt haben musste, um dieses Werk zu schaffen. Und immer wenn man kurz davor war, genug von den Kriegsschilderungen zu haben, ist er wieder auf die persönliche Ebene zu einer seiner Hauptpersonen gewechselt.
Besonders fasziniert hat mich das Kapitel mit der Beschreibung des Sterbens einer der Hauptpersonen. So einfühlsam, so nachvollziehbar die Angst vor dem Tod und dann das Erkennen und Fallen lassen. Hach das muss man einfach selber lesen.
In diesem Kapitel erwacht er – kurz vor seinem Tod – aus einem Traum auf und denkt:
„Ja, das war der Tod. Ich bin gestorben, ich bin aufgewacht. Ja, der Tod ist ein Erwachen“, blitzte es plötzlich in ihm auf, und der Vorhang, der ihm das Unbekannte bis jetzt verhüllt hatte, hob sich vor seinem geistigen Blick. Er fühlte gleichsam das Freiwerden der Kraft, die bisher in ihm gebunden gelegen hatte, und empfand jene seltsame Leichtigkeit, die ihn von nun nicht mehr verliess.
Krieg und Frieden, Leo Tolstoi
Herrlich, leider durfte ich euch ja nicht den kompletten vorhergehenden Traum zitieren, aber nach diesem Erwachen konnte er friedlich sterben.
Und begeistert hat mich das erste Kapitel des Epilogs:
Sieben Jahre waren vergangen. Das aufgeregte Meer des europäischen Geschehens war in seine Ufer zurückgeflutet. Es schien still geworden zu sein; allein die geheimnisvollen Kräfte, welche die Bewegungen der Menschheit bedingen – geheimnisvoll, weil die Gesetze, von denen diese Bewegungen abhängen, uns unbekannt sind -, wirkten weiter.
Krieg und Frieden, Leo Tolstoi
Hach, ist das nicht herrlich formuliert? In diesem Kapitel geht es darum, dass die Historiker mit Alexander und Napoleon streng ins Gericht gehen. Darum, dass alle Persönlichkeiten an dem Gerichtshof der Historiker vorbeidefilieren müssen und freigesprochen oder verurteilt werden. Darum, dass Historiker sich aus seiner Sicht erdreisten zu behaupten, er hätte so und so handeln müssen. Tolstoi macht uns nun aber bewusst, dass die Betreffenden zu dieser Zeit gar nicht den Überblick haben konnten, wie die Historiker damals und heute. Und so schreibt er zu Zar Alexander als Antwort auf die Frage worin das Wesen der Vorwürfe gegen den Zaren der Historiker besteht:
Darin, dass eine historische Persönlichkeit wie Alexander I., eine Persönlichkeit, die auf der denkbar höchsten Stufe menschlicher Macht stand, gleichsam im Brennpunkt des blendenen Lichts aller auf ihn konzentrierten geschichtlichen Ausstrahlungen, eine Persönlichkeit, die jenen von der Macht einfach nicht zu trennenden überstarken Einflüssen der Intrige, des Betruges, der Schmeichelei, der angenehmen Selbsttäuschung ausgesetzt war, eine Persönlichkeit, die in jeder Minute ihres Lebens die Verwantwortung für alles europäische Geschehen auf sich lasten fühlte, eine nicht konstruierte, sondern lebendige und leibhaftige Persönlichkeit, die wie jeder Mensch ihre eigenen persönlichen Gewohnheiten, ihre Leidenschaften, ihren Zug zum Guten, Schönen und Wahren hatte – also darin, dass dies Persönlichkeit vor einem halben Jahrhundert nicht etwa vor dem Richterstuhl der Ethik schlimm gehandelt hätte – das machen die Historiker Alexander ja gar nicht zum Vorwurf -, sondern dass diese Persönlichkeit über das Heil der Menschheit nicht genau so dachte, wie es heute ein Professor tut, der sich von früh auf mit der Wissenschaft befasst hat, das heisst, mit dem Lesen von irgendwelchen Büchern, dem Anhören von irgendwelchen Kollegs und dem Exzerpieren dieser Büche und Nachschreiben dieser Kollegs in ein hierzu bestimmtes Heftchen.
Krieg und Frieden, Leo Tolstoi
Und Tolstoi macht uns klar welche Kleinigkeit kriegsentscheidend war und auch das ist so wunderbar nachvollziehbar. Ich liebe seine Art zu formulieren, habe mich während des Lesens mal als Franzose oft aber als Russe gefühlt. Ok, ich würde es nicht noch einmal lesen, aber es ist einfach ein wundervolles Buch. Vielleicht wage ich mich aber mal an ein anderes Werk von Tolstoi.
Krieg und Frieden
Leo Tolstoi
Ausgabe der deutschen Buch-Gemeinschaft Berlin und Darmstadt in der Übersetzung von Werner Bergengruen aus dem Jahr 1956